In der ehemaligen MITROPA-Gaststätte des Bahnhofs Magdeburg-Buckau befindet sich die Suppenküche der Magdeburger Tafel. Wo früher die Arbeiter nach der Schicht ihr Bier tranken, herrscht heute striktes Alkoholverbot. Auch das Rauchen ist untersagt. Unweit des Bahnhofs, der vor der Wende Werkzeugmacher und Maschinenbauer ausspuckte und nach acht Stunden wieder einsaugte, liegt ein riesiges beräumtes Gelände - Magdeburg kämpft mit der Deindustrialisierung nach der Wiedervereinigung.
Um den Personalabbau in den Unternehmen der Stadt aufzufangen, war 1991 die Gemeinnützige Gesellschaft für Ausbildung, Qualifizierung und Beschäftigung (AQB) entstanden, die Arbeitslose für den ersten Arbeitsmarkt qualifizieren sollte. Der jedoch brauchte die meisten davon nicht. Nach und nach verschoben sich die Aufgaben der AQB in Richtung Wohlfahrt - ab 1997 betrieb sie zwei Suppenküchen und drei mobile Ausgabestellen.
Die Buckauer Suppenküche hat seit neun Uhr geöffnet. Im einstigen Gastraum findet sich eine Mischung aus Kantine und Restaurant, hell und freundlich, mit Grünpflanzen, Raumteilern und einer Bücherwand, aus der die Kunden sich bedienen können. Reiseliteratur wird gern genommen. An einem Tisch in der Mitte des Raumes thront Inge und hat sich schön gemacht, weißer Rock, bunte Bluse, Goldschmuck. Sie hat ihre eigene Tasse hier, kommt jeden Tag, bleibt viele Stunden und sorgt nebenbei für Ordnung. Zum Beispiel, dass der Toilettenschlüssel nach Gebrauch wieder zurückkommt.
Mit dem, was übrig bleibt
Ursula Fahtz, Geschäftsführerin der AQB seit 1993 - eine resolute Frau, anders wäre ein solcher Job nicht durchzuhalten - kann mit Obdachlosen wie mit Politikern umgehen. Es gibt Fotos von ihr und dem anhaltinischen Ministerpräsidenten, dem Oberbürgermeister und anderen Prominenten. Politiker schmücken sich mit der Magdeburger Tafel, das Elend wirkt dann nicht mehr ganz so schlimm, und man muss nicht zugeben, dass die Agenda 2010 gescheitert ist.
Diese Tafeln sind das Pflaster auf einer Wunde, die viel zu groß ist. Seit Erlass der Hartz-Gesetze ist deren Zahl in Deutschland von 320 auf fast 800 gestiegen. In Magdeburg versorgen im Augenblick 26 Supermärkte, ein Fleischer und drei Bäcker die Suppenküchen mit dem, was übrig bleibt.
Die Magdeburger Tafel beschäftigt zwei Angestellte, 40 Ein-Euro-Jobber, eine ABM-Kraft und zehn Ehrenamtliche. Gekocht wird, bis auf einen Tag in der Woche, Suppe oder Eintopf. Alles andere wäre eine unzulässige Konkurrenz für die umliegenden Imbisse. Bei der AQB ist man stolz auf jede Initiative, die der engen Gesetzgebung abgetrotzt wird, wie die Tafelgärten zum Beispiel. Weil die Stadt schrumpft, lagen viele Kleingärten brach. Irgendwann kam jemand auf die Idee, man könne die verlassenen Parzellen für die Magdeburger Tafel pachten. Seitdem wird dort von Ein-Euro-Jobbern Gemüse angebaut und an die Bedürftigen verteilt.
Auch für Kindergärten wird gekocht
Heute gibt es Gemüseeintopf mit Fleisch und Würstchen. 50 Cent kostet eine Portion. Jeder der Mitarbeiter hat Lebenserfahrung auf dem Buckel, die für drei reicht. Die Chefköchin Anja Rohrbeck hat es durch einen Konkurs ihrer Fleischerei hierher verschlagen. Ihr Lieblingsgericht ist Hühnersuppe. Wenn der algerische Kollege kocht, gerät es auch einmal exotischer, je nachdem, was an Gewürzen da ist. "Milchreis geht gar nicht, da streiken die Männer", sagt Anja Rohrbeck. "Als nächstes probieren wir Sauerkraut mit Kartoffeln. Das hatten wir noch nicht."
Alexandra Rießler ist bei AQB für die sozialen Projekte verantwortlich und macht sich als ausgebildete Pädagogin besonders für Vorhaben stark, die Kindern zugute kommen. Die Kinderarmut sei das Schlimmste. Rießler besorgt Erstausstattungen für die Schule, organisiert Kinderfeste und Weihnachtsfeiern. Wenn es nach ihr ginge, sollte die Politik die Mittel für die anstehende Erhöhung des Kindergeldes lieber in die Versorgung von Schulen und Kindertagesstätten stecken, inzwischen ein gravierendes Problem. Wenn die Eltern das Mittagessen der Kinder in den Tagesstätten nicht mehr bezahlen können, müssen die Kindergärtnerinnen die Kinder während des Mittagessens spielen schicken oder die Eltern bitten, ihre Kinder in der Mittagszeit abzuholen. Für die Mitarbeiterinnen der Kitas ein unerträglicher Zustand. Am Anfang, als es noch Einzelfälle waren, haben die Frauen das Essen einfach stillschweigend aufgeteilt, inzwischen reicht es nicht mehr für alle. Es gibt Überlegungen, einzelne Kindergärten aus den Suppenküche zu beliefern.
Ab vier Personen zwei Beutel
Im Keller steht Barbara Gerstmann inmitten von Plastiktüten, die auf dem Betonboden verteilt sind. In drei Stunden wird sie die mobile Ausgabestelle im Stadtteil Sudenburg anfahren. Sie ist schon viele Jahre dabei, erst als ABM-Kraft - seit sie in Rente ging als Ehrenamtliche. Gerade verstaut sie Waren, die aus den Supermärkten und Bäckereien angeliefert wurden: Reis, Dauerwurst, Müsli, Joghurt, Wasserreis, Pudding, Baguette. Dazu frisches Obst und Gemüse, das erst vor Ort ausgegeben wird. "Wir versuchen, immer ungefähr die gleiche Menge in die Tüten zu packen und nichts, was die Kunden nicht gebrauchen können." 80 Tüten wird sie mitnehmen. Für die Kleinkinder hat sie noch Kindernahrung im Auto.
Für die Tüte Lebensmittel, inklusive Obst und Gemüse, nimmt die Tafel einen Euro. "Am Anfang kostete es nichts, da wurde viel weggeworfen. Aber es gibt genug Leute, die selbst den Euro nicht haben. Vergangene Woche kam jemand, der brachte das Geld in Zwei-Cent-Stücken, die er sich zusammengebettelt hatte." Im Sommer gibt es weniger Bedarf als im Winter, Ende des Monats mehr als am Anfang. Seit die Verbraucherpreise noch oben gehen, reicht Hartz IV zum Existieren nicht mehr aus, zum Leben hat es noch nie gereicht. 300 Angemeldete hat Barbara Gerstmann in ihrem Ordner. Zweimal in der Woche haben sie das Anrecht auf eine Tüte pro Bedarfsgemeinschaft. Ab vier Personen sind es zwei Beutel.
Als im vergangenen Jahr zusätzliche Orte für die mobile Lebensmittelausgabe gesucht wurden, stellte die FEUERWACHE, ein soziokulturelles Zentrum im Stadtteil Sudenburg, ihren Hofgarten zur Verfügung. Sudenburg war nie ein reicher Bezirk. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg gab es im damals noch als Feuerwehrschuppen genutzten Gebäude eine öffentliche Suppenküche. Keiner hätte sich träumen lassen, dass man derartige Refugien eines Tages wieder brauchen könnte. Und viele, die es nicht betrifft, wollen es auch nicht wissen.
Die ersten Kunden kommen drei Stunden vor Ankunft des Autos. Eigentlich unnötig. Wenn es an Tüten fehlt, wird über Telefon nachgeordert. Für manche jedoch strukturiert dieses Warten den Tag, und sie sind unter Leuten. Einige lesen, andere unterhalten sich, wieder andere legen den Kopf auf den Tisch und schlafen. Wer hinzu kommt, der fragt, wer der Letzte war und sucht sich einen Platz.
Die Skatspieler sind ausgeblieben
Mittelpunkt ist Reiner Schild. Reiner mit e. Darauf legt er Wert. Er trägt eine Sonnenbrille und hat eine laute Stimme. Die Mitarbeiterinnen der FEUERWACHE, die in der ersten Etage ihrer Arbeit nachgehen, nennen ihn "den Sprecher". Zwei Bandscheibenvorfälle haben Reiner in die missliche Lage gebracht, aus der er das Beste zu machen sucht. Früher war er Lokführer, fuhr bis zur Wende die Versorgungszüge über die Grenze bei Oebisfelde. Das viele Kohlenschippen auf der Dampflok hat seinen Rücken kaputt gemacht. Jedes Mal, wenn ein Handy klingelt, ruft er: "Der BND ist dran." Dann lachen die Frauen, die um den Tisch sitzen. Eine hat frisches Brot gekauft und verteilt es.
Im Sommer können sich die Wartenden auf dem Hof verteilen. Im Winter oder wenn es regnet, ist die Situation misslicher. Dann drängen sich die Leute im Treppenhaus. Wenn es sehr kalt ist, kochen die Mitarbeiterinnen der FEUERWACHE Tee für alle. Mit der Zeit werden es mehr und mehr. Es kommen Familien, manchmal drei Generationen, Schwangere, Babys, Migranten, Obdachlose. Die Skatspieler sind heute ausgeblieben. "Wo ist eigentlich unser Ausländer, der immer Kreuzworträtsel macht?", fragt Reiner. Eine dicke Frau sitzt unter einem Sonnenschirm und teilt ihrem Mann das Bier zu, das sie in Verwahrung hat. Alle halbe Stunde eins, man könnte die Uhr danach stellen.
Ohne Tafelpass keine Tüte
Punkt zwei biegt der Lieferwagen durch das Tor und sofort bildet sich, wie von Geisterhand geordnet, eine Schlange, die über den ganzen Hof reicht. Mit einem "Guten Tag, alle zusammen" eröffnet Barbara Gerstmann die Ausgabe. Hans-Joachim Jenrich, ihr Fahrer, verteilt hinter dem Auto Obst und Gemüse. Heute sind frische Zwiebeln aus den Tafelgärten dabei. Die Leute holen ihren Tafel-Pass heraus, den nur bekommt, wer Gerstmann einen aktuellen ALG-II- oder Rentenbescheid vorzeigt. Ohne Tafel-Pass keine Tüte.
Vor allem die älteren Frauen, die ihr ganzes Leben lang mit dem Erlös ihrer Arbeit auskamen und nun mit der Rente nicht mehr hinkommen, kostet es Überwindung, hier zu sein. "Ich habe ein halbes Jahr gebraucht", sagt eine von ihnen und hält den Beutel auf, in den Barbara Gerstmann die Waren packt. Ab und an nimmt sie eine der Frauen in den Arm und redet ihr Mut zu. Keine soll das Gefühl haben, Almosen zu nehmen. Das kommt an, auch wenn nicht jede Gerstmanns Freundlichkeit erwidert. Doch als die kürzlich 60 wurde, haben alle auf dem Hof zusammengelegt und ihr einen Blumenstrauß geschenkt. Das hat sie gerührt.
Nach anderthalb Stunden sind alle 80 Beutel verteilt. Barbara Gerstmann ordnet den Papierkram, Hans-Joachim Jenrich räumt die Kisten ein und sammelt den Müll auf, während er mit einem Mann redet, der immer als Letzter kommt, um zu schwatzen. Heute sind wieder einige neue Kunden dazugekommen. Irgendwann wird die Kapazität der Magdeburger Tafel an ihre Grenzen stoßen. Daran möchte heute noch niemand denken.
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