Das Vergehen der Bier-Boheme

Gentrifizierung Das Viertel um den Kollwitzplatz im Berliner "Prenzlberg" ist nach 15 Jahren saniert. Aber ist es ein Erfolg, dass seit 1993 vier Fünftel der Bewohner weggezogen sind?

Der Kollwitzplatz im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg ist über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. Selbst in Süddeutschland nicken die Leute, wenn sie den Namen hören; weil ihre Kinder dort hingezogen sind oder weil sie bei einem Aufenthalt in Berlin den Kollwitzmarkt besucht haben.

1993 wurden der Kollwitzplatz und die umliegenden Straßen des Gründerzeitviertels zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee formal zum Sanierungsgebiet erklärt. Die Stadterneuerungsgesellschaft S.T.E.R.N. übernahm die Koordinierung. Das Viertel war damals grau, verwohnt, aber lebendig, ein „Künstler-, Chaoten und Kreativenviertel“ (Wolfgang Kil), das am 3. Oktober 1990 von ebenjenen zur Autonomen Republik Utopia ernannt worden war. Utopia war schon am selben Tag vorbei, denn im Einigungsvertrag war die Formel „Eigentum vor Entschädigung“ enthalten, und es war abzusehen, dass sich das Viertel verändern würde, abgesehen davon, dass eine Sanierung von Wohnungen und Infrastruktur dringend nötig war. Die Frage war, wie sozialverträglich und mit wie viel Bürgerbeteiligung das vonstattengehen würde.

Anfang 2009, nach 15 Jahren, wurde die Festlegung des Sanierungsgebietes Kollwitzplatz aufgehoben, für den Senat war das Ziel erreicht. Der Sanierungsträger S.T.E.R.N. dokumentiert nun den Verlauf und die Ergebnisse des Prozesses auf einem Dutzend Ausstellungstafeln im Sebastian-Haffner-Zentrum. Was die Modernisierung des Viertels angeht, ist das Ergebnis eindrucksvoll und wäre ohne die Anstrengungen von S.T.E.R.N. sicher nicht in dem Maße erreicht worden. In 15 Jahren wurden 70 Prozent der gründerzeitlichen Wohngebäude saniert, 132 Millionen Fördergeld sind geflossen, Schulen und Kindergärten wurden renoviert und die Infrastruktur verbessert.

Sanierungsziel aber war auch eine Erhaltung der Sozialstruktur. Würde man nachforschen, wer von den Leuten auf dem Foto der Mieterdemonstration „WBA – Wir bleiben alle“ 1993 vor dem Roten Rathaus noch im Viertel wohnt, das Resultat wäre ernüchternd. So entzündet sich der Streit der Kritiker und Befürworter des Sanierungsprozesses daran, ob es in einer Großstadt ein Erfolg ist, wenn nach 15 Jahren Sanierungsgebiet noch 17,3 Prozent der Bewohner in derselben Wohnung wie 1993 leben. Die kulturelle Entwicklung von der Bier-Boheme zum Bionade-Biedermeier hat die Politik der behutsamen Stadterneuerung nicht aufgehalten, im Gegenteil. Das Sanierungsgebiet Kollwitzplatz ist ein Musterbeispiel für Gentrifizierung. Profitiert haben die gut verdienenden Neu­zugezogenen, die hier in den vergangenen Jahren Familien gegründet haben. Wer in pastellfarbenen Wohnhäusern wohnen will, darf nicht grau aussehen. Bezahlbare Wohnungen für unter dem Durchschnitt Verdienende gibt es kaum noch.

Die Ausstellung feiert die Erfolge, die Probleme muss man zwischen den Zeilen suchen. Wer eine gute Ausstellung sehen will, sollte einen Blick in die Halle des Prenzlauer-Berg-Museums drei Etagen tiefer werfen, wo man in der Ausstellung Energie aus Wilhelmsruh etwa erfährt, dass Ende des 19. Jahrhunderts die Damen unter den neuen elektrischen Bogenlampen der AEG ihre weißen Sonnenschirme aufspannten, um nicht geblendet zu werden.

Stadterneuerung Kollwitzplatz Sebastian-Haffner-Zentrum, Prenzlauer Allee 227. Bis 30. April. Täglich von 13 bis 19 Uhr, Eintritt frei. Energie aus Wilhelmsruh noch bis 30. Mai

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