Bevor der neue Roman von Martin Walser erschien, herrschte rege Betriebsamkeit auf den Literaturbetriebsfluren. Zum einen natürlich, weil das Buch nach Jahrzehnten bei Suhrkamp Walsers erstes Werk ist, das bei Rowohlt erscheint. Der Streit um seinen letzten Roman Tod eines Kritikers und die nachfolgenden Querelen zwischen Suhrkamp-Verlag und Autor sind in den Feuilletons erschöpfend behandelt worden. Vielmehr taten sich plötzlich riesige Schlüssellöcher auf, so groß, dass auch an Klatsch Uninteressierte zwangsweise hineinstürzen mussten. Im Literaturbetrieb wisperte es, dass der neue Walser Der Augenblick der Liebe die Antwort auf den vor einem Jahr erschienenen Roman Bleibtreu der Fernsehjournalistin Martina Zöllner sei. Darin geht es um das Geliebtendasein der Fernsehjournalistin Antonia Armbruster, die nach einem Fernsehbeitrag über den wesentlich älteren berühmten Philosophen Christian Bleibtreu eine Affäre mit ihm beginnt, deren Verlauf ziemlich schonungslos beschrieben wird.
Vorspiel auf dem Theater
Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass verstoßene Geliebte nicht mehr ins Wasser gehen, und nicht nur deshalb, weil sie spätestens in der dritten Klasse schwimmen gelernt haben. Es ist eine große Errungenschaft der Frauenemanzipation, wenn sie stattdessen Romane schreiben. Im Falle Martina Zöllners ist bis auf gelegentlich ausuferndes Geplapper von Karrierefrauen in den Enddreißigern, ein gar nicht so schlechter daraus geworden. Nur möchte man es als mehr an der Literatur und weniger am Klatsch interessierter Mensch vielleicht gar nicht so genau wissen, welcher berühmte Hirsch sich hinter den Entkleidungsszenen verbirgt. Irgendeiner aber hatte nun einmal bei passender Gelegenheit ausposaunt, dass Martin Walser derjenige welcher sei, und es war in der Welt. So kommt man dazu, zwei Bücher zu lesen, um eins zu rezensieren.
Man kann über beide Romane sagen, dass sie für sich selbst sprechen. Man kann es aber auch reizvoll finden, zu vergleichen, wie zwei Autoren auf unterschiedliche Weise ein Thema bearbeiten. In Zöllners Buch hat der Geliebte Christian Bleibtreu die Idee eines gemeinsamen Projektes: Der Arbeitstitel lautet "Das Näheprojekt". Dafür macht er sich reichlich Notizen über die gemeinsame Beziehung, und die Geliebte liest ihm Teile ihres Romans vor, den sie während der Beziehung über die Beziehung schreibt. Beide Romane können wie zwei Arbeitsergebnisse eines gemeinsamen Projektes rezipiert werden. Oder als Fortsetzung einer Liebesbeziehung in der Transzendenz.
Auch Walsers Romantitel findet sich schon, gut versteckt, bei Zöllner. Als Antonia Armbruster während eines Vortrages von Christian Bleibtreu im Publikum sitzend, zu ihm aufschaut, fällt ihr ein wunderbares Handke-Zitat ein. "In den Augenblicken der Liebe spannte sich die Welt, und die Falten des Herzens klebten nicht mehr aneinander." Glaubt man Gottlieb Zürn, so gibt es keine Zufälle im Leben. Aber der ist eine literarische Figur.
Gottlieb Zürn goes Amerika
Lassen wir Antonia Armbruster und ihre Schöpferin links liegen, schließlich hat Martin Walser schon im Vorfeld alle Vergleiche von sich gewiesen und Die Welt wissen lassen: "Der Stoff für den Augenblick der Liebe ist seit zwanzig Jahren in meinen Notizbüchern. Es ist doch lächerlich zu glauben, ein Autor schreibe ein Buch als Antwort auf ein anderes Buch."
Und weil man auf den Literaturbetriebsklatsch nichts geben will, liest man, um Walser gerecht zu sein, das Schwanenhaus von 1980 noch einmal und nimmt sich auch den Nachfolgeroman Jagd von 1987 vor. In der Tat ist die Personage seit einem Vierteljahrhundert bekannt. Gottlieb Zürn nebst seiner Ehefrau Anna sind siebzehn Jahre nach dem letzten Zusammentreffen mit dem Leser erneut Hauptakteure eines Romans. Die vier Töchter Rosa, Magda, Julia und Regina, deren verschiedene Phasen der Pubertät den vorherigen beiden Romanen Stoff gaben, sind aus dem Haus. Sie haben ihre eigenen Beziehungsprobleme, während Gottlieb sich, im Anfall einer schweren Endlifecrisis, in die vierzig Jahre jüngere Doktorandin Beate Gutbrod verliebt, die eines Tages am Gartentor erscheint, weil sie Material für ihre Dissertation über die deutsche Rezeption des französischen Philosophen La Mettrie, die sie an einer Uni in North Carolina schreibt, recherchiert.
Gottlieb, als Immobilienmakler schon am Ende von Schwanenhaus zugunsten seiner Frau, die die bessere Verkäuferin ist, zurückgetreten, hat sich vor Jahren in einem Anfall von Liebhaberei unter dem Pseudonym Wendelin Krall essayistisch mit den Werken dieses Materialisten auseinandergesetzt. Nun ist Zürn über 70 und seine Gattin verkauft neben Häusern auch noch ihre Fähigkeit, mit Hilfe von ererbten Naturkräften und Kräutermixturen Analthrombosen oder Halsbeschwerden zu heilen. Ihr siebenter Sinn gestattet ihr, durch ihren Mann und seine Geheimnisse durchzusehen und seinen Willen zu beeinflussen und sei es durch Halsbeschwerden. Anna ist die große Figur des Romans, ohne die dieser neue Walser nichts wäre. Sie leuchtet in jeder Zeile und Die Welt fragte dann auch vorsichtig an, ob die äußerst liebevolle Beschreibung der Ehefrau eine Antwort auf die holzschnittartig geratene Elisabeth Bleibtreu des Zöllnerschen Romans sei. (Worauf Walser polterte, dass er ein Literaturgespräch wünsche, keinen Talkshow-Journalismus.)
Walser hat im Augenblick der Liebe zwei Romane untergebracht. Zum einen gibt es die Fortsetzung der Familiengeschichte Zürn nebst Maklerkollegen Kaltammer und Schatz sowie Sängerin a.D. Lissy Reinhold, von deren Üppigkeit nichts übrig geblieben ist, als ein "kleiderbehängtes Gebein". Da ist Walser ganz der alte - der große Erzähler der mittleren Leute. Der zweite Roman dreht sich um den Hedonisten La Mettrie, seinen Interpreten Zürn/Krall sowie die Geliebte und La-Mettrie-Spezialistin Beate Gutbrod und ist in Deutsch, Französisch und Englisch verfasst. In ihm ist ein lesenswerter Essay über den Philosophen versteckt und eine ärgerliche, weil zu holzschnittartig geratene Auseinandersetzung mit der angeblichen Schuldunfähigkeit der Deutschen am Beispiel der La-Mettrischen "remords" und ihrer Interpretation durch Zürn. Beate gelingt es, Zürn, nach innigen Telefonaten und Korrespondenzen, zu einer La-Mettrie-Konferenz nach North Carolina einzuladen, auch, um ihn ganz für sich zu gewinnen. Aber der Aufenthalt gerät öffentlich und in Liebesdingen zu einer mittleren Katastrophe.
Überschwemmte Schluchten
Eine vierzig Jahre jüngere Geliebte ist in jeder Hinsicht eine Herausforderung. Und so bietet das Buch eine Menge Altherrenerotik. Angesichts des jungen Glücks bleiben Gottfried Zürn mitunter Luft und Spucke weg, nicht aber wuchtige Worte. "Schluss mit dem grotesken Verhinderungs- und Verhütungszirkus. Scheiden schlämmen. In das schwarzrote Dunkel ihrer Scheidenschlucht den taghellen milchigen Samen träufen, bis von allen Rändern und Wänden nur noch die lichten Samenschwaden flossen, die Schlucht überschwemmten und schlämmten." Wem´s gefällt.
Wer ob der Sexprotzerei allerdings das Gähnen oder andere Anwandlungen bekommt, kriegt von Gottlieb Zürn angelegentlich der erotischen Zeichnungen des Immobilienmaklers Paul Schatz, die Lissy Reinhold altersgeil findet, eine Lektion erteilt. "Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein Älterer, wenn er das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine Ahndung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die haben eine Moral, die sie ästhetisch-sittlich drapieren." Im Hintergrund zwinkert da immer eine Anna Zürn, die, da ist man sich irgendwann ziemlich sicher, jenseits des Blickwinkels ihres Gatten ihre ganz eigenen erotischen Erfahrungen gemacht hat, die ihrem Ehemann allerdings gänzlich entgangen sind. Es ist an der Zeit, dass sie ganz allein spricht, mit Hilfe welchen Mediums auch immer.
Und der Augenblick der Liebe? Er setzt sich aus vielen Augenblicken zusammen. Gottlieb Zürn kann sich nicht entscheiden. Immer ist der Augenblick der Liebe, den er erlebt, der falsche. So führt es ihn von der Ehefrau weg zu der Geliebten nach Amerika und wieder an den Bodensee zurück, wo die Sehnsucht ihn nach Amerika zurückwünscht. Am Ende heiratet die Geliebte den Kontrahenten, den gewalttätigen Denunzianten Dr. Rick W. Hardy, der Zürn als Deutschen auf der La-Mettrie-Konferenz der Schuldunfähigkeit bezichtigt hatte. Und der wiederum an die hysterische Ehefrau in Zöllners Roman erinnert. Verflixt. Vergleiche beider Romane sollten dem Universitätsbetrieb überlassen werden. Ein lohnendes Thema für angehende Literaturwissenschaftlerinnen. Kann ja sein, eines Tages klingelt eine diesmal fünfzig Jahre jüngere Studentin, nennen wir sie Josi oder Paulina, an der Tür des Meisters, um ihn für ihre Magisterarbeit zu obigem Thema zu befragen und wenn sie dann im Garten sitzen und die Frau, nennen wir sie Anna oder Elisabeth, die mitgebrachte Sonnenblume ins Wasser stellt, wird Josi/Paulina beginnen: "Herr Zürn oder Herr Krall oder Herr Bleibtreu, wie hätten Sie´s gern?". Und die Möglichkeiten werden klirren.
Martin Walser: Der Augenblick der Liebe. Roman. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004, 253 S., 19,90 EUR
Martina Zöllner: Bleibtreu. Roman. Dumont, Köln 2004, 374 S., 19,90 EUR
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