Eine Auseinandersetzung mit Geschichte findet meist im Takt der Jubiläen statt. Ein Journalistenforum im Internet bietet neben Hinweisen auf Rabatte auch einen Kalender mit den Daten der nächstfolgenden Jubiläen, auf dass sich die Zunft rechtzeitig darauf vorbereiten kann. Die Themen reichen von der Erfindung der Glühbirne bis zum Gang nach Canossa. Dieses Jahr hieß das Highlight "1968", dieses alle fünf Jahre grüßende Murmeltier, in den nächsten beiden Jahren werden es Mauerfall und Wiedervereinigung sein. Ende des Jahres also wird die Folkloregruppe Baader-Meinhof abtreten und Pittiplatsch in der Uniform der Arbeiterkampfgruppen die Bühne erklimmen, aber gelacht werden soll bitte schön nicht mehr darüber. Hinter jeder Mauerecke lauert schon ein Fernseh-Star, um entweder Täter oder Opfer spielen zu dürfen.
Der Mauerfall ist das letzte Kapitel des deutschen Dramas, das fernsehgerecht zum Melodram zurechtgeschnitten werden kann. Und auch an Veröffentlichungen wird kein Mangel herrschen. Schließlich muss die in den letzten Monaten vielgescholtene, weil, was das Thema DDR angeht, ahnungslose Jugend Nachhilfe bekommen, auch wenn in den letzten zwanzig Jahren über kaum ein Thema in der Bundesrepublik so viel geforscht worden ist wie über den untergegangenen ostdeutschen Staat. Vielleicht, um dem ganzen Tamtam auszuweichen, hat Rolf Hosfeld seine Monografie Was war die DDR? ein Jahr vor den Feierlichkeiten veröffentlicht. Anders als der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler, für den die DDR in seiner kürzlich abgeschlossenen fünfbändigen Deutschen Gesellschaftsgeschichte nur eine Fußnote ist - schon wissenschaftlich fundierte Verachtung wäre zuviel Aufmerksamkeit gewesen - steht sie in der Monografie des Berliner Filmemachers und Journalisten, früher einmal Kulturchef der Woche, im Mittelpunkt. Der Titel ist Antwort und Frage zugleich. Zum einen reagiert er auf Veröffentlichungen, die schon in der Überschrift behaupteten "Das war die DDR", zum anderen stellt Hosfeld sich die Frage wirklich und versucht daher alle Facetten, einschließlich der Widersprüche in der Entwicklung, zumindest zu benennen.
Bis auf das Anfangskapitel, das die DDR von ihrem Ende her - den Stunden um den Mauerfall am 9. November 1989 - erzählt, geht das Buch chronologisch vor, von der Eroberung Berlins durch die Rote Armee, bis zum Sturm auf die Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990, und orientiert sich, von kleinen Ausflügen zu Abseitigem einmal abgesehen, an den Jahreszahlen 1948, 1952, 1953, 1956, 1961, 1965, 1973, 1976 und 1989, die die wichtigsten Ereignisse markieren. Hosfeld, der nicht so sehr ein Historiker als vielmehr ein multiperspektivischer Autor ist, kommt ohne Fußnoten aus, auch wenn er im Anhang auf eine beeindruckend breite Lektüre verweist. Die Sprache seines Buches ist sowohl analytisch als auch erzählend, immer wieder flicht Hosfeld Zitate ostdeutscher Autoren wie Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Franz Fühmann, Heiner Müller, Kurt Drawert, Wolfgang Hilbig, Christa Wolf oder Brigitte Reimann ein, die den Text sprachlich verdichten.
Eine herausragendes These, wie beispielsweise Wolfgang Engler in seiner Studie Die Ostdeutschen (1999) hat Hosfelds Monografie nicht. Sie bezieht aber Stellung bei der schon zu DDR-Zeiten unter Intellektuellen immer wieder thematisierten Frage, wer schlimmer sei: Ulbricht oder Honecker. Die Wahl fällt bei Hosfeld auf Erich Honecker, den er an einer Stelle als "mausgrau" bezeichnet und von dem er genüsslich die Anekdote erzählt, dass Ulbricht einmal über ihn gesagt habe, Honecker sei deshalb so seltsam, weil ihm in seiner Zeit als Dachdecker ein Stein auf den Kopf gefallen sei. Ausführlich beschreibt Hosfeld die Wandlung Ulbrichts vom Stalinisten zum Technokraten Anfang der sechziger Jahre und seinen Versuch, die Wirtschaft der DDR konkurrenzfähig zu machen, ein Experiment, das objektiv scheitern musste und das von Honecker zugunsten der Sozialpolitik auf Pump aufgegeben wurde. Letzterer tauschte die Experimente gegen eine kleinbürgerlich-sozialistische Plattenbauidylle, die Ruhe versprach, die am Ende keiner mehr wollte - und der die ökonomische Grundlage schon Anfang der siebziger Jahre entzogen war.
Auch die intellektuelle Provinzialisierung durch systematische Vertreibung oder das Mundtot-Machen von kritischen Intellektuellen arbeitet Hosfeld heraus. Ab und an hält er in seinem Parforceritt durch die nicht immer geradlinige Geschichte dieses anderen deutschen Staates inne und erzählt weniger bekannte Geschichten, wie die über den Besuch Ulbrichts bei Mao, der ihm 1956 am Beispiel der Chinesischen Mauer den Bau eines Schutzwalls als probates Mittel der Feindabwehr nahe legte. Ehe Ulbricht darauf zurückkam, war das Verhältnis zu China aber schon wieder zerrüttet. Auch wenn Hosfeld die Existenz der DDR als notwendigerweise endlich beschreibt, versucht er dennoch zu verstehen, warum so viele Protagonisten sie, oft wider besseres Wissen, als Alternative zum Kapitalismus und als Antwort auf den Nationalsozialismus verstanden haben.
"Glaubte die Führungsschicht der DDR an die Zukunft ihres Staates? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Angesichts der Antwort des 17. Juni 1953 auf Ulbrichts revolutionären Aufbruch, angesichts des Zwangs zur Einmauerung, der wirtschaftlichen Katastrophenpolitik und der fortwährenden Verschuldung in den siebziger und den achtziger Jahren, angesichts der intellektuellen Provinzialisierung, des bewusst in Kauf genommenen Zerfalls der Städte und bedeutender Kulturdenkmäler können da Zweifel berechtigt sein. Andererseits hatte sie als Produkt des Kalten Krieges kaum eine andere Wahl." Hosfeld beschreibt das Ende der DDR als Bewegung von unten, dem die Führung ohne Unterstützung durch Moskau nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
Seine Monografie ist nicht die erste über dieses untergegangene Land und wird auch gewiss nicht die letzte sein - sie ist aber ganz sicher nicht die schlechteste. Wer noch nichts oder nur Vages über die DDR weiß, dem sei das Buch als Überblick empfohlen. Es erzählt die Geschichte des Landes anschaulich und ohne Besserwisserei oder ideologische Attitüde als ein unmögliches Projekt, einen Traumtanz der "Unschuld mit ihrem blutigen Lächeln" (Milan Kundera). Die "historische Illusion hatte sich selbst dementiert", das kommunistische Experiment war eine "ultimative Katastrophe des Gutgemeinten als politisches Prinzip", das unzählige Protagonisten verschlang. Aber Hosfeld verschweigt nicht, dass die DDR Teil einer gemeinsamen deutschen Geschichte ist und sich schon deswegen jede Arroganz verbietet. Ohne die Entwicklung seit dem ersten Weltkrieg hätte es die DDR nicht gegeben. Sie war ein Ergebnis des gewaltsamen "deutschen" zwanzigsten Jahrhunderts.
Rolf Hosfeld Was war die DDR? Die Geschichte eines anderen Deutschland. Kiepenheuer, Köln 2008, 304 S., 18,95 EUR
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