Tegel. Es gibt in Berlin keinen Ort, an dem der Verlust von Freiheit und das Ausleben derselben enger nebeneinander herliefen. Über uns ist alle fünf Minuten ein Flugzeug im Landeanflug auf Berlin. Der Hohlweg, den wir schließlich entlang fahren ist von Mauern und hohen Peitschenleuchten begrenzt. Er endet an einem Rolltor, das sich langsam öffnet und sobald wir hindurch sind, zügig schließt. "Anstaltsgelände. Betreten und Befahren ist nur befugten Personen gestattet."
Wir sind auf dem Parkplatz der Justizvollzugsanstalt Tegel, auch Kittchen, Knast oder Loch genannt.
Wie geht es eigentlich Architekten, die den Auftrag bekommen, ein Gefängnis zu bauen? Ist es ihnen egal, ob sie ein Bundeskanzleramt oder einen Knast auf dem Reißbrett entwerfen? Diejenigen, die den Eingangsbereich der JVA Tegel gebaut haben, müssen sehr ambitioniert gewesen sein. Der trichterförmige Wachturm fügt sich geschickt in das Ensemble der Mauern ein. Sie sind höher als die Berliner Mauer je war, und das Weiß der Wände sticht in die Augen.
Vor dem Tor zwei steht ein bunter Kindersportwagen. Er passt hier nicht her. Er nimmt auch nichts von der Beklemmung, die einen befällt, wenn man von Mauern, Toren und Kameras umgeben ist. Es gibt eigentlich nur eine Frage: Wie komme ich hier wieder heraus? Für diejenigen, die mich mitgenommen haben, ist das schon Routine, sie sehen die Mauern nicht mehr. Es sind die Mitarbeiter des Knasttheaters "aufBruch", die zweimal in der Woche hierher kommen, um mit den Gefangenen Theater zu spielen. Die Eingangstür schließt sich hinter uns mit einem schweren Ausatmen der Hydraulik. Wir sind im Niemandsland. Hinter einer Scheibe schaut ein Vollzugsbeamter zu uns hinunter. Er ist wortkarg. "Die Pässe mal bitte", raunzt er durch die Scheibe und elf Ausweise werden gegen Gästekarten eingetauscht. Hinter uns nimmt ein zweiter Beamter Aufstellung. An seinem Gürtel baumelt ein Schlüsselbund, wie in einem schlechten Film.
"Benutzen Sie die Schließfächer vor dem Eingang, um Ihre Wertsachen zu deponieren. Alles, was Sie einbringen möchten, muss vorher angemeldet werden."
Der lange Gang, der vor uns liegt, ist von Gittern zerteilt, die der Beamte aufschließt, um sie, wenn der letzte von uns durch ist, genauso sorgfältig wieder zu verschließen. Es riecht nach Süßigkeiten. Der Geruch kommt von den Automaten, die die Wände entlang aufgestellt sind.
Auf dem Hof werfen die Wände große Schatten, es ist inzwischen dunkel geworden. Von weitem sieht es aus als näherten wir uns der Wilhelmstraße. Die Neubauten der Häuser fünf und sechs sehen den Neubauten dort aus dieser Perspektive verblüffend ähnlich. Sie wurden in den achtziger Jahren für die Langzeitinsassen errichtet, die hier für viele Jahre ihren Lebensmittelpunkt haben, wie es so schön heißt. Ein Lebensmittelpunkt, der keine Ränder hat, an die man ausweichen könnte. Wir werden im Kulturraum eingeschlossen. Er ist kahl, nur an den Fenstern sollen die Scheibengardinen, wie man sie in Küchen draußen oft findet, den Schein von Normalität wahren. Nach und nach kommen die Schauspieler. Die meisten tragen Jogginganzüge, man geht da mit der üblichen Freizeitmode. "It takes a little more to make a champion", steht auf der Jacke eines Gefangenen, ein anderer wirbt für ein Ingenieurbüro für Baugrunduntersuchungen. Manche sind schon von Beginn an dabei. Das Theater hat Beckett gespielt, es hat Berlin-Alexanderplatz aufgeführt, und in diesem Jahr beschäftigt es sich mit der Gladowbande, die in der Nachkriegszeit in Berlin Überfälle beging und deren Bandenchef am Ende unter dem Fallbeil starb. Die Gladowbande ist nur eine Folie für das Stück. Es geht um die eigene Geschichte. Wie wird man Verbrecher und warum? Die Rechnung ist klar, auch wenn man, wie Bomme Redzinski fünfzig Jahre vorher nicht rechnen gelernt hat, sondern die Beute in gleiche Haufen teilte, egal, welche Zahl auf dem Geldschein stand. Verbrechen lohnt sich, im Gegensatz zu ehrlicher Arbeit, aber man darf das elfte Gebot nicht verletzen, was da heißt: Du darfst dich nicht erwischen lassen. Die zwanzig Männer haben es alle verletzt. Im Raum kommen mehr als hundert Jahre Gefängnis zusammen. Das Stück wird aus dem Spiel entwickelt. Vorerst geht es noch um Versuchsanordnungen. Wieviel verdiene ich mit einem Kilo Kokain, das ich selbst in Südamerika abhole, die Unkosten abgezogen und vorausgesetzt, es geht nichts schief? Der Schauspieler hat alles bedacht, die Summe reicht am Ende für ein Jahr ordentliches Leben. "Wenn du das alles so gut kannst", fragt ein Mitspieler, "warum trägst du dann eine Brille von Fielmann?"
Nach zwei Stunden Spiel sind die Grenzen verwischt zwischen denen, die immer hier sind und denen, die nur zu Besuch kommen, bis der Wärter mit den Schlüsseln klappert und die Ordnung wiederherstellt. Die einen nach links, dem Ausgang zu, die anderen geradeaus.
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