Fussball ohne Tor

BERLINER ABENDE Die zwei, die vor uns in Richtung Stadion gehen, brauchen die ganze Breite des Gehwegs, denn es sind schwankende Gestalten, die in gewisser ...

Die zwei, die vor uns in Richtung Stadion gehen, brauchen die ganze Breite des Gehwegs, denn es sind schwankende Gestalten, die in gewisser Gleichförmigkeit zwischen Bordstein und S-Bahnböschung hin- und herpendeln. Sie tragen neckische Herthamützen, die etwas zu klein sind für ihre Köpfe. Ihre Jacken hängen schwer herunter vom Sturzbier in den Taschen, das sie kurz vor dem Eingang noch kippen werden, damit es ein schöner Abend wird. Denn im Olympiastadion hat man das Bier verwässert. Es heißt jetzt Leichtbier und hat ungefähr soviel Prozent, wie kurz nach dem Krieg von den Russen erlaubt. Vor dem Eingang zum Olympiastadion formieren sich die lockeren Demonstrationszüge aus allen Himmelsrichtungen zu einem blau-weißen Pulk, der sich vor den Eingängen staut. Der ganze Katalog des Hertha-Merchandisings tut sich auf. Familien mit blau-weißen Zaubererhüten, Schals, Jeanswestenaufnähern, Hertha-Sitzkissen und, ganz reizend, Hertha-Ponchos, zu denen nur noch die Panflöte mit Hertha-Aufdruck fehlt, warten darauf, von den Ordnern nach Waffen, Flaschen und nach dem Angriff auf Oliver Kahn wahrscheinlich auch Golfbällen abgeklopft zu werden.

Nach diversen Regionalligabegegnungen, die sich jedesmal zu Räuber- und Gendarmspielen ausweiteten, bei denen es kaum noch um das Spiel auf dem Rasen ging, kommen mir Punktspiele im Olympiastadion wie reine Familienbelustigungen vor. Polizei ist zwar präsent, aber eher im Hintergrund. Hinter den Nordrängen bewachen sie die Mauer zum Schwimmstadion, damit enttäuschte Fans sich nicht aus fünf Meter Höhe vor die Startblöcke stürzen. An diesem Freitagabend hätten sie Grund dazu gehabt.

Mein letztes Hertha-Heimspiel war gegen Kaiserslautern. Es war todlangweilig und erinnerte vom sportlichen Standpunkt eher an eine Drittligabegegnung, wo sich von allen Regelkenntnissen Unbedarfte fragen mussten, ob es Punkte dafür gibt, das Tor nicht zu treffen. Inzwischen hatte Hertha aber ein paarmal gewonnen, und an diesem Freitag stand sie auf Platz 4 der Tabelle. Willi - einer meiner Begleiter - meinte nur, das sage nichts über die Güte der Mannschaft, höchstens etwas darüber, wie schlecht die anderen seien. In Berlin liebe man es, Mauern aufzubauen, da sei Hertha keine Ausnahme, und Mauern im Fußball mache jedes Spiel langweilig. Gleich in der 40. Sekunde sah es so aus, als irre Willi. Hertha ging gleich forsch aufs Wolfsburger Tor, aber nach einigem Durcheinander im Strafraum prallte der Ball gegen den Pfosten. Damit war die beste Chance des Abends schon vertan, wir wussten es nur noch nicht. Rechts und links von mir waren alle in die Höhe geschnellt, die Arme schon zum Jubel erhoben, aber dann sanken sie wieder in sich zusammen und auf ihre Schalensitze zurück.

Die Besucher im Block 27 sind altgediente Fußballfans. Sie haben beinharte Jahre im Fanblock hinter sich, haben sich bei Auswärtsspielen mit gegnerischen Fans geprügelt, haben die dunkelsten Zeiten der Hertha mitgemacht oder waren früher anderen Vereinen zugetan, die jetzt in der Regionalliga vor sich hindümpeln. Jetzt sind sie alle in ein gewisses Alter gekommen, wo man keine großen Transparente mehr ins Stadion schleppt. Sie haben sich eine Dauerkarte zusammengespart und wollen guten Fußball sehen. Manche kommen geradewegs von der Arbeit ins Stadion und klemmen ihre Aktentaschen unter den Schalensitz. Unten auf dem gut ausgeleuchteten Spielfeld spielen Leute, die in der Minute soviel verdienen, wie sie in der Stunde. Nach der Pause wird es auch nicht besser. In Block 27 steigt der Unmut. Alle schreien durcheinander.

"Nun spiel'n se schon Fußball und wissen nich, was Abseits is." - "Ab in die 2. Liga!" - "Wat uns fehlt, sind Killer!" - "Aua, aua!" - "Gib mir einen Golfball!" - "Geh mal 'n Bier holen, dann fällt immer ein Tor." - "Seit die Geld verdienen, können die nischt mehr." - "Grottenschlecht!" - "Spiel doch mal, und zwar zur anderen Seite." - "Die laufen nicht mal." - "Keene Technik, nüscht, der Röber macht wohl nur Waldläufe mit die." - "Jaja, bleibt nur immer schön im Mittelfeld stehen." - "Schnarchsäcke." - "Wenn mir jemand die Pille so hinlegen würde, hätt' ick die mit links ringekriegt." - "Wenn ick der Röber wär, hätt' ick schon längst ausjewechselt!" - "Den Ball hätt' ick mit der Badekappe rinjetunkt!" - "Ick will Fußball sehen für mein Jelt!"

Es nützt nichts, die Spieler hören nicht auf sie. Auch der Trainer wechselt erst aus, als schon alles zu spät ist. "Grabt den Ball ein", schreit einer hinter mir, völlig verzweifelt. In der 76. Minute sieht man hinter der Stadioneinfahrt einen Krankenwagen mit Blaulicht abfahren. Einer der Fans hat wahrscheinlich vor Ärger einen Herzinfarkt bekommen.

Als die 20. Torchance verpasst ist, kneift mich mein linker Nachbar vor Ärger in den Arm. Fünf Minuten vor Schluss schreit einer: "Ihr seid so Scheiße!" und geht. Auf dem Heimweg aber sind die schwankenden Gestalten schon wieder dabei, ihre Hertha schönzureden. "So schlecht war's nun auch wieder nicht."

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