Auf der Gormannstraße beginnt der übliche Abendbetrieb. Schicke Autos sind auf Parkplatzsuche. Touristen vergleichen ein Foto aus ihrem Reiseführer mit der Fassade des Hauses, vor dem sie stehen. In der Nobelgaststätte "Weltbühne" stehen die Kellner Spalier. Sie ist völlig leer. Ein Mann mit feinem Anzug fährt auf einem alten Motorrad vor und stellt es mitten auf der Straße ab. "Hey, du da", schreit der Hallenwart der Franz-Mett-Sporthalle, "stell ma deine Maschine da weg. Det is die Feuerwehrzufahrt." Der Motorradfahrer zuckt etwas zusammen, hält sich aber an die Anweisung.
Der Hallenwart trägt einen Jogginganzug, wie er als Freizeitbekleidung in Vorstädten und der Ostprovinz üblich ist und nicht so recht in die Touristenszene passen will. Genauso wenig wie eine Halle für klassischen Vereinssport. Er verteidigt hier das Proletariat, das erfolgreich aus Mitte vertrieben wurde und höchstens noch in der Schmuddelvideothek gegenüber präsent ist. Jeder, der an ihm vorbei in die Halle geht, wird auf seine Sporttauglichkeit gemustert. Aber man muss dann nur seine Sporttasche schwenken und wird durchgewunken.
Seitdem wir hier mittwochs turnen, wird in der Halle gebaut. Für den Umbau des Vorderhauses und den Rückbau der Fassade hat das Geld noch gereicht, im Hinterhaus, in dem sich die Gymnastikhalle befindet, stagnieren die Arbeiten schon seit Monaten. Es gibt keinen Umkleideraum, keine Duschen, keine Toiletten, und die Glasscheiben der Tür sind immer noch durch Plasteschilder ersetzt, auf denen VR Bulgarien und SR Rumänien steht, alte, auf Fenstergröße zurechtgeschnittene Schilder, mit denen früher die Delegationen in die Stadien einmarschiert sind, und die hier als ewiges Provisorium ihr Dasein fristen.
Eigentlich habe ich Gymnastik immer gehasst. Mit vier Jahren musste ich wegen Haltungsschäden zu Frau Rotfuß in eine Villa am Stadtrand. Sie war staatlich geprüfte Krankengymnastin, aber ich fand damals, dass sie eine Kinderschinderin war, unerbittlich in ihren Forderungen nach Spagat, Brücken und anderen für mich unnatürlichen Verrenkungen. Bis heute kann ich noch im Schlaf Zeitungspapier mit den Zehen aufheben. Ich weiß noch, wie erleichtert ich war, als Gymnastik für immer ausfiel, weil Frau Rotfuß in den Westen abgehauen war.
Aber irgendwie ist das Leben auch unerbittlich. Als mein Normalgewicht langsam aber sicher in Übergewicht abzugleiten drohte, war es Zeit für mehr Bewegung. Wasser war mir auf die Dauer zu nass, für Federball fehlte mir die zweite Person, und schließlich fingen sie im Friedrichshain an, die Asphaltwege, auf denen man wunderbar skaten konnte, wieder zu Waldwegen zu machen. Ich bekam dann den Tipp mit der Germanistinnengymnastik. In Wirklichkeit sind gar nicht alle Germanistinnen, die dort turnen, aber so viele hochgraduierte Frauen auf einen Haufen gibt es heute nicht mehr an der Universität, vor allem nicht so viele Professorinnen.
Unsere Vorturnerin ist Doktorin und auch in der Gymnastik nahezu perfekt. Sie schafft es trotz ausgestreckter Beine mit den Handflächen die Erde zu berühren. Sie kann auch, aus der Kerze heraus, die Knie neben ihren Ohren ablegen. Sie sieht dann aus wie die ordentlich zusammengefalteten Bündel Kleidungsstücke auf den Hockern. Besonders gemein ist, wenn sie dann aus ihrer Höhle heraus ruft, wir sollten uns in dieser Haltung eine Weile entspannen. Bei uns anderen sind die Bäuche im Weg, und wir atmen auf, wenn nach unendlichen langen Sekunden das Kommando kommt, wieder in die Ausgangsstellung zurückzukehren.
Manchmal erinnert sie mich an Frau Rotfuß, wenn sie mal wieder eine von uns erwischt, die zwischendurch schummelt oder den Körper wie ein Häkchen gebogen hat, wenn eigentlich Haltung verlangt ist. Zum Glück hat die Halle zwei ausladende Säulen, hinter denen man sich wunderbar verstecken kann. Wenn unsere Vorturnerin "Auf die Knie" ruft, hoffe ich jedesmal, dass es keine Voyeure gibt, die an den kaputten Scheiben hocken oder Touristen, die sich auf dem Weg zu einem Event verlaufen haben und nun mit uns als Ereignis vorliebnehmen.
Über uns klatschen Körper auf Matten und erschüttern die Decke. Es sind Judokas, die ich manchmal beneide wie die Volleyballer, die im Vorderhaus schreien, während wir diszipliniert nach Musik unsere Dehnübungen veranstalten. In der letzten halben Stunde kommen die Entspannungsübungen, bei denen ich wunderbar darüber nachdenken kann, was ich alles vergessen habe den Tag über. An besonders schlechten Tagen schlafe ich ein.
Nach dem Training gehen wir immer noch einen trinken. Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass ich, seit ich zur Gymnastik gehe, kein Gramm abgenommen habe.
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