Mit einiger Fassungslosigkeit konnte man im Dezember verfolgen, was passierte, nachdem Kurt Beck auf seiner Gemütlichkeitsrunde über den Wiesbadener Weihnachtsmarkt zu nah ans Volk gekommen war und der Langzeitarbeitslose Henrico Frank ihm seine Meinung ins Gesicht gerufen hatte, in unsauberen Worten. Solche Störung war im Protokoll nicht vorgesehen und passte auch nicht in die beschauliche Weihnachtsstimmung: der Fürst geht zum Volk, es ist Weihnachten und alles wird gut.
Gerade hatten diverse Wirtschaftsinstitute den Aufschwung prophezeit. Der böse Einwurf eines Arbeitslosen war eine Beleidigung für die sozialdemokratische Seele, die ja nach wie vor an die Vollbeschäftigung glaubt. Beck blaffte zurück: "Sie sehen nicht so aus, als ob Sie in Ihrem Leben schon viel gearbeitet haben. Wenn Sie sich waschen, haben Sie in drei Wochen einen Job." Dem Vorsitzenden einer Regierungspartei hätte solch ein Fehler eigentlich nicht passieren dürfen. Knapp unter vier Millionen Arbeitslose müssten sich nur rasieren, waschen und parfümieren und schon hätten sie Beschäftigung. Wie schön und wie einfach. In diesem Fall wurde keine Mühe gescheut, dem Langzeitarbeitslosen Frank, lanciert über die rheinland-pfälzische Staatskanzlei, sieben Jobs anzubieten und diese gute Tat, bevor es der Betroffene selbst erfuhr, den Medien zu melden. Jobs, die Henrico Frank gar nicht antreten konnte mit seiner ruinierten Gesundheit. Das interessierte Bild aber nicht. Einsdreifix war er zum Schmarotzer heruntergeschrieben und zum Beispiel für ein Großteil der Arbeitslosen erhoben. Denen geht´s eben noch zu gut, also noch mal ran an die Schraube. So wird in diesem Land Politik gegen Armut gemacht.
Die Politiker können sich relativ sicher sein, dass bald vergessen wird, was sie so den lieben langen Tag absondern. Wer erinnert sich noch an den Satz des VW-Managers Peter Hartz, der am 16. August 2002 Arm in Arm mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder verkündete: "Heute ist ein guter Tag für die Arbeitslosen". Er meinte die nach ihm benannten Gesetze. Nach den ostdeutschen Protesten gegen die Neuregelungen im Jahr 2004 ließ die Regierung mitteilen, sie werden statt des Begriffs Hartz IV lieber ALG II verwenden. Hartz IV sei "lautmalerisch hart". Unter den Betroffenen hat sich der Begriff inzwischen durchgesetzt und was sich dahinter verbirgt, ist nicht nur lautmalerisch hart. "Es hört sich so fies an, wie es ist", sagt die Betroffene Jana Herrmann. Die Proteste dagegen haben sich schnell im Sande verlaufen. Warum eigentlich?
Diese Frage ist der Ausgangspunkt des Buches Einfach abgehängt. Ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland von Nadja Klinger und Jens König, in dem Hartz IV nur Teil eines umfassenden Problems ist, dass nämlich die Schere zwischen Arm und Reich in der Bundesrepublik immer weiter aufgeht und der beschleunigte Kapitalismus des 21. Jahrhunderts nur noch denen Freiheit, Demokratie und Wohlstand verspricht, die sich seinen wirtschaftlichen Zwängen beugen. "SAGEN WIR es gleich am Anfang freiheraus: Ja, in diesem Land gibt es Armut, und sie breitet sich immer weiter aus. Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, Ausländer, Schulversager, kinderreiche Familien - sie alle sind davon betroffen. Genauso wie Menschen aus der bislang für sicher gehaltenen Mitte der Gesellschaft: Leute, die Arbeit haben, aber schlecht bezahlt werden, Akademiker mit Doktortitel, die keine Anstellung finden, Facharbeiter, die nach zwanzig oder dreißig Jahren ihren Job verlieren und nach einem Jahr Arbeitslosigkeit nur noch von Hartz IV leben."
Nach Einführung ebendieser Gesetze im Jahr 2005 haben sich Nadja Klinger und Jens König, er Parlamentkorrespondent der taz und sie Reporterin, von Berlin aus auf die Reise durch die Bundesrepublik, nach Rostock, Dresden, Hamburg, Dortmund, Wiesbaden und Frankfurt/Main gemacht, um Geschichten vom Armsein in Deutschland zu erzählen. Nüchtern und präzise sind ihre Geschichten und gerade deshalb empörend, flankiert von Fakten, Daten und Zahlen und "Sieben Vorschlägen für eine intelligente Armutspolitik". Armut ist ein komplexer Gegenstand, dafür steht auch dieses Buch. Es geht eben längst nicht mehr darum, nur Geld umzuverteilen, es geht um Zugang zu Bildungschancen, Information und auch nur um die Möglichkeit, ohne Scham in der Gesellschaft aufzutreten. Es geht um Würde.
Herzstück des Buches sind zwölf Porträts von Betroffenen, zumeist Langzeitarbeitslosen, aber auch einem gutbezahlten Wirtschaftswissenschaftler, dem wegen Schulden aus schlecht beratenen Immobiliengeschäften kaum Geld für den laufenden Unterhalt bleibt oder von Leuten, die auf der anderen Seite des Schreibtisches sitzen, wie die drei Mitarbeiterinnen des Hanse-Jobcenters Rostock, die einen aussichtslosen Kampf gegen die Arbeitslosigkeit führen. Und da ist die Geschichte von Elke Reinke, die nach 13 Jahren Erwerbslosigkeit nun für die Linkspartei im Bundestag sitzt und erleben muss, dass ihr bei ihrer ersten Rede kaum ein Abgeordneter zuhört. "Ihr Mitarbeiter beobachtet das Geschehen vom Rand. Er sieht, wie SPD-Fraktionschef Franz Müntefering für einen Moment von seiner Zeitung aufschaut, als es um das Frühstück für 88 Cent geht." Für die arbeitslose Einzelhandelskauffrau mit drei Kindern, Jana Herrmann, kann schon ein kleines bisschen Glück zum Verhängnis werden. Da kommt ein Mitarbeiter der ARGE unangemeldet und liest einen Brief vor: "Jemand schreibt, Frau Herrmann aus dem Hochparterre habe einen Geliebten. Der fahre jeden Freitag um vier mit seinem Golf vor. Darauf folgt die genaue Beschreibung des Wagens, das polizeiliche Kennzeichen. Erst am Montag um fünf in aller Frühe verlasse der Geliebte die Wohnung wieder. Der Brief trägt keinen Absender. Es ist ein anonymer Hinweis, dem der ARGE-Mann nachgeht." Jana Herrmann hat Glück, dass nur vier Zahnbürsten im Bad sind und nicht fünf. Es gibt Menschen, denen ist ein zweites Kopfkissen zum Verhängnis geworden.
Die meisten der Porträtierten sind sich ihrer Lage durchaus bewusst und von einer Stärke, die beeindruckt. Dabei wird permanent ihr Stolz verletzt. Das hat nichts mit herzlosen Mitarbeitern zu tun, sondern es ist gesetzlich festgelegt. Da braucht man nur ein ALG-II-Antragsformular durchzulesen. "Hartz IV ist ein Paßwort", schreiben Klinger und König. "Man betritt das Untergeschoß. Von hier gibt es kaum Ausblick." Ab und an gibt es einen 1-Euro-Job. "Da stehen Religionswissenschaftler und Philosophen und teilen alte Jacken aus", sagt Kirsten Falk, die Zahnärztin, die kostenlos Obdachlose behandelt. "Was ist das für ein Land, das fähige Leute dort, wo sie wirklich was schaffen können, nicht gebrauchen kann."
Das Buch erschien mitten hinein in die sogenannte Unterschichtendebatte, die aufkam, nachdem die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung im Oktober eine vieldiskutierte Studie vorlegte, nach der 8 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik arm sind. Im Dezember untermauerte das Statistische Bundesamt diese Zahlen: Man kann bei einer 10,6 Millionen Menschen umfassenden Bevölkerungsgruppe von einer "Armutsgefährdung" sprechen. Das bestätigte die Zahlen von Klinger und König.
Das Buch macht wütend, aber die Frage ist, wer wird es lesen? Und wenn es die Entscheidungsträger zur Kenntnis nehmen, wollen sie es auch hören, folgt etwas daraus oder verpufft es, wie die Bundestagsrede von Elke Reinke? Es ist eben gerade nicht oberflächlich und in zehn Minuten konsumierbar.
Das, was die Qualität des Buches, neben den Porträts, ausmacht - die Aktualität, ist auch sein Nachteil. Das Buch muss seine Wirkung sofort entfalten, das Los vieler Sachbücher, nicht nur zu diesem Thema. Denn die mühsam recherchierten Zahlen, Fakten und Bestimmungen veralten schnell. Die Zumutungen wurden inzwischen schon wieder verschärft.
Aber dass nach Brecht die Steine in der Moldau wandern, schafft nicht selten auch Genugtuung. Den VW-Manager Peter Hartz führte der Triumphzug von Hartz IV ein paar Meilensteine bergab zu Hartz 44. Inzwischen muss er sich nämlich wegen Untreue in 44 Fällen verantworten, teilte die Staatsanwaltschaft im November mit. Es wäre Strafe genug, Herrn Hartz die Jahre bis zur Rente mit seiner Erfindung Nr. IV zu beglücken. Für den Lebensabend kann man ihm dann den per FAZ übermittelten Tipp des Vizekanzlers Müntefering zur Altersarmut zukommen lassen. "Da kann man Verschiedenes versuchen: Balalaika spielen oder Lotto spielen, Riester-Rente oder betriebliche Versicherung machen, und dann muss man sehen, ob man auf die Art und Weise etwas zusammenbekommt." Vielleicht werden wir ja noch erleben, dass sie gemeinsam in der Unterführung des Berliner U-Bahnhofes Stadtmitte für Almosen musizieren: Müntefering an der Balalaika, Hartz mit Akkordeon, und vielleicht kommt ja auch noch Beck als Sänger dazu. Der Erlös wird selbstverständlich auf die Stütze angerechnet.
Nadja Klinger, Jens König: Einfach abgehängt. Ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland. Rowohlt Berlin, Berlin 2006, 256 S., 14,90 EUR
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