Herz gebrochen, Spaß dabei

Kreuzberger Realismus Von ungeschriebenen Herr-Lehmann-Rezensionen und der neuen CD von "Element of Crime"

Neulich stand in der taz ein Nachruf auf Frank Lehmann. Frank Lehmann, dachte ich, kenne ich doch. Der war doch noch gar nicht so alt. Und es fiel mir wieder ein, dass ich die Rezension zum letzten Frank-Lehmann-Buch Neue Vahr Süd für diese Zeitung nicht geschrieben hatte. Der Auftrag war schon eine Weile her, es gab einen im doppelten Sinne gewichtigen Grund, warum ich es bisher versäumt und nun den richtigen Zeitpunkt verpasst hatte, und natürlich hatte ich mir schon die Gegenfrage an den Redakteur zurechtgelegt, die nämlich, ob es überhaupt Sinn mache, Bestseller zu rezensieren. Die verkaufen sich doch sowieso von selbst. Man sollte sich lieber Büchern widmen, die es schwer haben auf dem Markt, weil sie für den Markt nicht gemacht sind, dem Zeitgeist um Längen voraus oder zu kompliziert, um in der Straßenbahn gelesen zu werden. Dabei gab es wenig, was aus meiner Sicht gegen Herrn Lehmann sprach, außer, dass seine Kreuzberger Zeit verfilmt worden war. Denn der Film war soviel dümmer als das Buch von Sven Regener. Ich hatte nicht verstanden, was ihn, außer Geld vielleicht, veranlasst hatte, das Drehbuch zu schreiben.

Trotzdem muss ich immer, wenn ich nachts über den Lausitzer Platz laufe, an Herrn Lehmann denken. Besser gesagt daran, dass dort gleich vor mir dieser Hund liegen und mich nicht vorbeilassen könnte. Es ist immer dieselbe Ecke links neben der Kirche, wenn man vom U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof kommt. Ich kann eigentlich ziemlich sicher sein, dass da wieder ein Köter streunt. Ich habe schreckliche Angst vor Hunden, vor allem nachts. Ich halte dann verzweifelt nach dem Herrchen Ausschau, das aber meistens angetrunken schwankend vor einem Baum dreihundert Meter weg steht und versucht, gegen eine Linde zu pinkeln, ohne die Schuhe zu treffen. Herrn Lehmann ging es ähnlich. Das hat mich sogleich für ihn eingenommen. Und es ging nicht nur mir so.

Es ist eigenartig, welche Figuren sich ins Bewusstsein einer Generation einbrennen und welche nicht. Manche überleben das erste Jahrzehnt und werden unsterblich, für andere interessiert sich die nächste Generation einen feuchten Kehricht. Herr Lehmann ist so eine Figur dieses Jahrzehnts, nicht so berühmt wie Harry Potter, dazu fehlt ihm der Ehrgeiz und die Anzahl der auch im angelsächsischen Raum verständlichen Abenteuer, aber er ist doch eine von einem Kollektiv adoptierte Figur, deren Name alles andere als selten ist. Das Berliner Telefonbuch sämtlicher deutscher Anschlüsse verzeichnet 563 Einträge nur für Menschen mit dem Namen Frank Lehmann. Die Ärmsten. Die wissen schon im Voraus, was sie zum Geburtstag bekommen und werden bestimmt immer aufgezogen wie der echte Herr Lehmann aus Kreuzberg, der manchmal in einem Klub Musik auflegt, dabei Flaschenbier trinkt und wahrscheinlich verliebt ist, ohne dass die Angebetete im Raum das jemals erfahren wird.

Herr Lehmann ist ein Geist aus der Flasche, den der Autor nun nicht mehr einfangen kann, im Gegenteil, er muss aufpassen, dass er Sven Regener bleibt. Gestern zum Beispiel habe ich nach Herrn Lehmann Ausschau gehalten und in meiner Bibliothek unter L gesucht (und dann das Buch zum Glück doch unter R gefunden).

Herr Lehmann ist der Großstadtschluffi von nebenan, der Flaschenbier trinkt, verliebt ist, äußerlich aber so tut, als wisse er nicht, was man mit Frauen anfangen soll und irgendwelche Jobs macht, um Geld für Bier zu haben. So einen kennt jeder, er könnte auch Uwe Schmidt heißen. Dann wäre er vielleicht 1980 aus Cottbus nach Ostberlin gezogen, hätte in Prenzlauer Berg eine verrottete Hinterhofwohnung besetzt, sein Geld mit Schmuckmachen oder Kleidernähen, als Hausmeister oder Friedhofsgärtner verdient und wäre nachts unterwegs gewesen. Der Unterschied wäre nur gewesen, dass er gezapftes Bier getrunken hätte. Mit Flaschenbier hatte man es im Osten nicht so. Man war misstrauisch, was in den Flaschen versteckt war.

Neue Vahr Süd setzt früher an. Herr Lehmann heißt noch Frank, ist 19, wohnt in Bremen in einem hässlichen Neubauviertel, das sich nicht unbedingt von Berlin-Marzahn, Magdeburg-Nord oder Leipzig-Grünau unterscheidet, mag kein Bier und hat nur unklare Vorstellungen über seine Zukunft, die der Herr-Lehmann-Leser schon kennt. Er hat verpasst, rechtzeitig den Wehrdienst zu verweigern und muss nun zur Bundeswehr. Das einzige Ausgefallene, das er sich leistet, ist, dass er gern Mommsen liest. So weit, so gut.

Mein Problem mit dem Buch war sein Umfang. Ich nahm es im September letzten Jahres mit auf eine Wolgareise, um es dort an Deck in Ruhe zu lesen und zu Hause die Rezension zu schreiben. Als das Schiff nach zehn Tagen in Astrachan anlegte, war ich fertig und hatte mir mit Bleistift Anstreichungen am Rand gemacht. Es las sich leicht wie Herr Lehmann, und das einzige, was ich dagegen zu sagen hatte, war, dass der Lektor ein bisschen mehr Strenge hätte walten lassen können. Das Buch hatte Längen, die keinen Sinn ergaben und mich streckenweise so langweilten, dass ich wieder anfing, Bier zu trinken. Die 800 Gramm Gewicht wurden schließlich zum Problem. Denn die Angestellten auf dem Flughafen von Astrachan kannten keine Gnade. Sie nahmen die deutsche Reisegruppe, die morgens um vier zum Flug nach Moskau eincheckte, gnadenlos aus, indem sie für jedes Gramm Übergepäck einen astronomischen Preis festlegten, der auf der Stelle in Rubel zu bezahlen war. Zu allem Überfluss rannten auch noch drei streunende Hunde durch die Abfertigungshalle, die ab und an auf die Gepäckwaage sprangen und kurzerhand mitgewogen wurden, was die Sache nicht besser machte. Um von dort wegzukommen, musste man bezahlen oder Ballast abwerfen. Ich entschied mich für Neue Vahr Süd und ärgerte mich nur, dass ich das Buch nicht den Dozentinnen der Fremdsprachenabteilung der Astrachaner Universität geschenkt hatte. Die waren da noch dem sozialistischen Realismus verpflichtet, da wäre der Kreuzberger Realismus eine echte Bereicherung gewesen. Das Buch jedenfalls war weg, samt meinen Aufzeichnungen. Und so habe ich die Rezension nie geschrieben.

Eigentlich fühle ich mich von Büchern, die ohne Rückblenden, Tempuswechsel oder überraschende Wendungen auskommen, unterfordert. Mit den Frank-Lehmann-Büchern geht es mir letztendlich wie mit der Musik von Element of Crime, die ja ebenfalls von Sven Regener stammt und vom ihm als Frontmann der Band interpretiert wird. Sie ist immer einen Millimeter vom Kitsch entfernt und man traut sich vor bestimmten Leuten nicht so recht zuzugeben, dass man sie mag und heimlich mitsingt. Denn eigentlich mag man es doch härter.

1987 hörte ich das erste Mal von einer Westberliner Punkband namens Element of Crime. Es hieß, sie sollten heimlich in der Ostberliner Zionskirche spielen, die damals mit der ihr angeschlossenen Umweltbibliothek ein Ort des Widerstands war. Es hieß, es könnte Ärger geben. Es gab Ärger, aber anderen als erwartet. Die Konzertbesucher waren beim Verlassen der Kirche von Skinheads angegriffen worden, es hatte Schwerverletzte gegeben. Die Band war wieder abgereist, und wir hatten in den nächsten Tagen mit gewisser Fassungslosigkeit registrieren müssen, dass die Staatsmacht mitsamt ihren Zeitungen sich auf die Seite der Skinheads stellte. Ich weiß nicht, wie viele der Konzertbesucher daraufhin einen Ausreiseantrag stellten, falls sie nicht schon einen hatten. Das mit der DDR als Hort des Antifaschismus war jedenfalls auch vorbei und das Land seinem Ende wieder ein Stück näher.

Als 1991 Damals hinterm Mond herauskam, war die Band nicht wiederzuerkennen. Element of Crime hatte sich neu erfunden mit deutschen Texten und komplexen Arrangements mit Bläsern, Streichern und Akkordeon. Es war auch Musik für Ostdeutsche, die Ersatz für ein Lebensgefühl brauchten und keine Ostbands mehr hören wollten, denn auch wir hatten gelacht, damals hinterm Mond, auch wenn man das 1991 nicht zugeben durfte. Verblüffend war, dass man in unterschiedlichen Welten zur selben Zeit erwachsen geworden war und trotzdem ähnlich dachte.

Inzwischen ist die Band verlässlich, sie erfindet sich nicht mit jeder CD neu. Man weiß ungefähr, was einen erwartet, und je nach augenblicklichem Lebensgefühl ist man einverstanden damit oder nicht. Das hat sich auch mit der in diesen Wochen erschienenen neuen CD Mittelpunkt der Welt nicht geändert. In bestimmten Situationen des Lebens ist der Genuss von Element-of-Crime-Musik immer noch besser als Alkohol oder Drogen.

In einer Nachsommernacht auf dem Fahrrad auf einer fast leeren achtspurigen Straße fahren, allein mit Liebeskummer und wider die Verkehrsvorschriften über Kopfhörer diesen schleppenden Rhythmus der Band und den launigen Gesang von Sven Regner hören, der singt: Frag mich nicht, wie ich ohne dich lebe/Den ganzen Tag unter Wasser und Spaß dabei/Alles geht irgendwie weiter/Im Himmel ist kein Platz mehr für uns zwei, dann ist man plötzlich beschwingt und sagt sich: Hör auf zu heulen, scheiß drauf, soll der Typ doch in der Hölle braten. Und das ist doch das Beste, was einem in solch einem Moment passieren kann.

Und wie es mit Herrn Lehmann weitergeht, kann man sich auch denken. Kann sein, dass er inzwischen in Delmenhorst den Mittelpunkt der Welt sieht, wo er hingezogen ist, weil die angesagten Berliner Innenstadtbezirke zu teuer sind und in der Markthalle in der Eisenbahnstraße zu viele Touristen nach Schweinebraten fragen. Vielleicht ist er auch in Berlin geblieben und verteidigt seine Paranoia. Inzwischen wird er auf Hartz IV sein, das Geld reicht eigentlich nur noch für Sternburgpils-Genuss vorm Supermarkt, aber die Macht der Gewohnheit spricht dagegen, nicht in die Kneipe zu gehen. Also steht er bis Monatsmitte jeden Abend mit Uwe Schmidt an einem Tresen in Prenzlauer Berg, Kreuzberg oder Friedrichshain. Danach ist er blank. Und wenn er Pech hat, kommt eine Kontrolleurin vom Jobcenter und überprüft, ob Herr Lehmann zwei Betten hat, die ungemacht sind. Und streicht ihm die Stütze, weil er angegeben hat, dass er alleine lebt. Und dann fängt die Scheiße erst richtig an.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden