In mir geschieht nichts

Debüt Endlich gibt es „Stalins Kühe“ von Sofie Oksanen auf Deutsch. Nur Lesern mit Essstörungen ist das Buch nicht zu empfehlen

Im Regionalexpress Richtung Magdeburg. Ich lese Stalins Kühe, der Mann gegenüber Titos Brille. So mäandert der Kommunismus mit seinem Reservoir an Geschichten nachträglich durch die ostdeutsche Landschaft, von der wir nichts sehen, weil wir in unsere Lektüre vertieft sind. Titos Brille kenne ich nur vom Titel, Stalins Kühe ist der 2003 im finnischen Original erschienene Debütroman der finnisch-estnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen, die 2010 mit ihrem dritten Roman Fegefeuer in Deutschland bekannt geworden ist und als große Begabung der finnischen Literatur gilt. Eigentlich ist das zu eng gedacht, denn Oksanen ist skandinavische und baltische Autorin zugleich, sie schreibt zwar auf Finnisch, ihre Geschichten aber erzählen die Verwerfungen im Nordosten Europas, vor allem in Estland, nach den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts, die vor keiner Familie Halt machten, auch nicht vor ihrer eigenen. In Stalins Kühe geht es um Körper, Identität und Heimat, drei Dinge, zu denen die Hauptfigur, die Ich-Erzählerin Anna, ein gestörtes Verhältnis hat. Der Roman ist Lesern mit Essstörungen nicht zu empfehlen. Die Hauptfigur leidet unter einer so schweren Bulimie, dass zu befürchten ist, sie stirbt, sollte sie aufhören zu erzählen. Es gibt keine Heilung, höchstens etwas Stabilität in der Krankheit. Die Teilhabe an der ausweglosen Lage, in der sich die Ich-Erzählerin in vollem Bewusstsein befindet, ist anstrengend und beglückend zugleich, denn Oksanen ist eine begnadete Erzählerin. Anna und ihr Ich sind sich so fremd, dass die Ich-Erzählerin nur aus der Distanz von einer Person namens Anna reden kann. Am wohlsten fühlt sich Anna bei den Besuchen in Estland, wohin sie von klein auf reist. Ihre Mutter Katariina ist eine Estin, die Mitte der siebziger Jahre zu einem Mann nach Finnland ausgereist ist, der als Monteur in der Sowjetunion arbeitet.

Sisyphusarbeit

Die Eltern bleiben seltsam unkörperlich. Der Vater ist nur Vati, der abwesende Finne, der sich gegen den Willen seiner Mutter, die alle Estinnen für Huren hält, Annas Mutter nach Finnland geholt hat. Er lädt sie in einem typisch finnischen Haus in einer typisch finnischen Kleinstadt ab, macht ihr ein Kind, Anna, und fährt zur Arbeit in die Sowjetunion zurück, wo er westliche Geschenke gegen sexuelle Gefälligkeiten russischer Frauen tauscht. In Estland war Annas Mutter Ingenieurin, diesen Beruf gibt es weder in der finnischen Sprache noch in der finnischen Realität. Man erfährt nicht, was die Mutter tut in dieser Einöde, die das Land ihrer Sehnsucht war, außer dass sie ständig nach Sonderangeboten sucht, mit denen sie Verwandte, Nachbarn und Beamte in Estland mit westlichen Waren ruhigzustellen hat, um immer wieder ein Visa für ihr Heimatdorf, wo ihre Mutter zurückgeblieben ist, zu bekommen. Sofi Oksanen beschreibt diese Reisen als Sisyphusarbeit. Sie denunziert weder die estnische noch die finnische Seite, aber ihre Hauptfigur wird zwischen beiden zerrieben.

Hatten die älteren Generationen noch mit struktureller Gewalt zu tun, verwandeln Tochter und Enkelin diese unausgesprochenen Gewalterfahrungen in Autoaggression. Einen äußeren Feind gibt es für sie nicht mehr.

Die Sprache ist kraftvoll, auch wenn die übermäßige Beschreibung der Bulimie den Roman an manchen Stellen zu sprengen droht. Aber Sofi Oksanen ist nie mitleidheischend, im Gegenteil, sie schenkt ihren Figuren nichts, schon gar nicht Selbstmitleid, es geht auch nicht um Schuld, auch nicht um die der Männer. Die Bulimie ist der Herr, ihr Gebieter und Geliebter, der Anna dazu zwingt, unter allen Umständen dem Schönheitsideal einer westeuropäischen Frau zu entsprechen. „Ja, Mutter, ich werfe alle Chancen weg, die du nicht gehabt hast. Ich lasse alles andere an mir vorbeirinnen und konzentriere mich auf das Wesentlichste: das Essen. Ich habe jede Chance erbrochen, mit der du mich gefüttert hast.“

Anna ist eine Frau, die von der Fähre zwischen Estland und Finnland nicht herunterkommt, weder Finnin noch Estin sein kann. Erst als sie ein Vierteljahrhundert alt ist, traut sie sich, ihren zahlreichen Geliebten zu sagen, dass ihre Mutter aus Estland stammt. „Und jedes Mal geschieht das Wunder – in mir geschieht nichts.“

Die Komposition des Romans ist ungewöhnlich. Die Vergangenheitsebenen, die von den vierziger bis weit in die siebziger Jahre reichen, haben einen personalen Erzähler und sind im Präsens geschrieben, die Gegenwart dagegen wird von einem Ich über weite Strecken im Imperfekt erzählt. Daraus ergibt sich eine größere Gegenwärtigkeit der Vergangenheit. Diese Kapitel sind auch Atempausen für die Leser, um sich von der anstrengenden Ich-Erzählerin und ihrem Leiden zu erholen – was allerdings trügerisch ist, liegt in der Vergangenheit doch die Ursache der Krankheit. Sollte es Sofi Oksanens persönliche Geschichte sein, die sie in ihrem Erstlingswerk erzählt, so mag die Autorin sich mit dem Schreiben geheilt haben. Für Stalins Kühe ist das ohne Bedeutung. Dieser Roman ist keine Therapie, er ist Literatur im besten Sinne.

Stalins Kühe Sofie Oksanen und Angela Plöger (Übers.) Kiepenheuer & Witsch 2012, 496 S., 22,99 €

Annett Gröschner ist Schriftstellerin. Sie unterrichtet am Institut für Literatur und literarisches Schreiben in Hildesheim

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