Im Jahre 1999 hatten vier junge Journalisten, zwei Ost, zwei West, zwei männlich, zwei weiblich, die Idee, zehn Jahre nach dem Fall der Mauer endlich einmal ein Buch zu machen, in dem ihre Generation zum Thema "Deutsche Einheit" zu Wort kommt. Es sollte keines dieser Bücher sein, wo mit wissenschaftlichem Anspruch die Einheit schöngeredet oder problematisiert wird. Die Autorinnen und Autoren sollten ihre persönliche Geschichte erzählen. Bisher hatten immer nur die Älteren geredet. Von den Kindern der 68er-Generation erwartete man lange Zeit, dass sie völlig unproblematisch in die neue Gesellschaft hineinwachsen. Sie waren noch nicht involviert in das jeweilige Gesellschaftssystem, hatten keine Verantwortung für irgendetwas, sind also unbelastet. Auch sieht man ihnen nicht mehr an den Schuhen an, woher sie kommen. Dass der ursprünglich vierte Herausgeber, männlich, mit Westsozialisation, das Projekt verließ und die drei anderen per Artikel in der Berliner Zeitung wissen ließ, dass er das Vorhaben untauglich findet, ist eine nicht unwichtige Geschichte am Rande. Das Buch kam trotzdem zustande. Der Aufbau-Verlag hielt es wahrscheinlich für eine gute Verkaufsstrategie, ihm den Titel Das Buch der Unterschiede. Warum die Einheit keine ist zu geben und es in einen nichtssagenden quietschgrünen Umschlag binden zu lassen. Davon sollte sich niemand abschrecken lassen.
In dem Buch werden Geschichten erzählt, die von gegenseitiger Fremdheit handeln. Manche können eine gewisse Bitterkeit nicht verbergen, andere sind ironisch, bisweilen ungerecht, in jedem Falle authentisch. Repräsentativ für eine Generation ist das Buch nicht, schon weil die Verlierer fehlen. Die hier sprechen, sind schon ein ganzes Stück auf der Karriereleiter vorangekommen. Von den 23 Autorinnen und Autoren sind 13 Journalisten und bis auf zwei haben alle ein Studium absolviert. 21 leben in Berlin, elf haben ihre Kindheit dort verbracht. 1989 waren sie zwischen 13 und 25, aßen Nutellabrote in Frankfurt am Main oder überlegten in Berlin-Ost, wie sie am besten in den Westen kommen könnten. Die meisten haben 68er oder kritische DDR-Intellektuelle als Eltern. Im Osten wurde ihnen in der Schule erzählt, dass der Westen unmenschlich sei, im Westen, dass der Osten hinterm Mond liege. "Die DDR, als es sie gab, war ähnlich weit weg wie das alte Rom, vielleicht auch noch ein Stückchen weiter", erzählt David Wagner und versucht sich vorzustellen, wie eine Kindheit jenseits von Donald Duck und Milky Way ausgesehen haben könnte. Die aus dem Osten hatten, als die Mauer fiel, längst mit der DDR abgeschlossen, schauten Westfernsehen, wussten, wie Milky Way schmeckt und fühlten sich als Wesen ohne nationale Identität. Mit dem Ende ihrer Pubertät brach ein ganzer Staat zusammen. "Lange vor dem Mauerfall war ich der DDR weggelaufen. Sie hatte es nur nicht bemerkt. (...) Dass meine Ostherkunft irgendwann mal spannend sein könnte, konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht vorstellen."
Jana Simon, eine der Herausgeberinnen, ist heute beim Berliner Tagesspiegel für "den anderen Blick" zuständig. "Meine Westkollegen setzen ganz selbstverständlich eine eigene DDR-Identität voraus, die ich nie dachte zu besitzen." Zu Ostlern sind sie erst im Nachhinein gemacht worden, was besonders für die schwierig war, die zu DDR-Zeiten ihre Herkunft mit großem Aufwand zu verschleiern suchten wie Maxim Leo. "Beunruhigt waren wir hingegen darüber, dass uns die ersten Angriffe der gerade entstehenden Besser-Wessi-Bewegung gegen den Osten stärker trafen, als wir gedacht hätten. Wir mussten erkennen, dass wir mit der DDR eigentlich enger verwoben waren, als uns lieb war. Sie war uns nach ihrem Untergang irgendwie präsenter und näher als je zuvor. So fühlten wir uns verletzt, wenn Leute aus dem Westen behaupten, wir wären alle schlecht ausgebildet. (...) Deshalb blieb uns nichts anderes übrig, als so schnell wie möglich erfolgreich zu werden. Blitzstudium und sofortiger Berufseinstieg waren selbstverständlich." Benachteiligungen aufgrund der Geburtsurkunde sind trotzdem immer noch üblich. Solange im Osten Geborene bei Einstellungsgesprächen erzählen sollen, wie sie zur PDS stehen, währenddessen ihre gleichaltrigen Kollegen aus dem Westen nach ihrem Freizeitverhalten gefragt werden und am Ende die Stelle bekommen, wird es keine Chancengleichheit geben. Will man dem Buch Glauben schenken, traf die deutsche Einheit aber ganz besonders schlimm die Westberliner.
So wurde Erasmus Hardtmann beim Antritt seines Praktikums in einer Dresdner Zeitung zuerst gefragt, ob er Ossi oder Wessi sei. "Für den Westberliner eine ziemlich komische Frage, sind doch die Wessis immer die jenseits von Gudow, Marienborn, Herleshausen und Rudolphstein gewesen, jenseits der Transitstrecke, in Westdeutschland. Hier sollte ich mich auf einmal identififzieren mit Pfälzern, Westfalen, Niedersachsen." Christian Kersten lässt einen Westberliner Polizisten sagen: "Wir Westberliner sind die eigentlichen Verlierer der Einheit" und meint ein bisschen auch sich selbst dabei. "Nicht nur, dass ich meinen Westberliner Âbehelfsmäßigen Personalausweis gegen eine ÂPersonalausweis der Bundesrepublik Deutschland mit dem Bundesadler eintauschen musste. Ein Stück meiner eigenen Identität war verlorengegangen."
Die in Westdeutschland sozialisierten Autoren kamen erst Mitte der neunziger Jahre nach Berlin, um hier zu studieren oder bei einer der Zeitungen anzufangen. In Frankfurt am Main oder Hamburg hätten sie sich niemals damit auseinandersetzen müssen, woher sie kommen und dass es da noch die anderen Deutschen gibt, denen man in Berlin nicht aus dem Weg gehen kann, auch wenn "Westler" in Bezirken wie Mitte und Prenzlauer Berg schon fast wieder unter sich sind. Beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg, wo zwei der Westautorinnen inzwischen arbeiten, kann man Ostdeutschen nicht aus dem Weg gehen. Dort, auf dem flachen Land, pflegt man ein gehöriges Vorurteil gegenüber Leuten aus dem Westen. Wiete Andrasch muss sich immer wieder anhören, dass sie für eine Westdeutsche doch ziemlich nett sei und fragt sich: "Warum kann ich in diesem Land nicht einfach Westlerin bleiben, auch wenn man mich hier ab und an nett findet?" Stefanie Wätjen dagegen wurde bei einer Fortbildung in Hannover automatisch für eine aus dem Osten gehalten, weil sie vom ORB kam. Eine Woche lang wurde sie wie eine Exotin behandelt und wusste nicht warum. Erst am letzten Tag erwähnte sie, dass sie aus Niedersachsen stammt. "Jedenfalls kam es mir so vor, als redeten die anderen nun freier mit mir." Während die aus dem Osten noch heute manchmal ihre Herkunft verschleiern, um nicht zum tausendsten Mal erzählen zu müssen, wie es wirklich war in der DDR, hat Susanne Leinemann die gegenteilige Erfahrung gemacht: "Noch nie habe ich einen Ostler erlebt, der mich unaufgefordert, sozusagen spontan gefragt hätte, wie es wirklich war, im Westen groß zu werden. Warum auch? Wenn das Wort 'Westen' fällt, erlischt die Neugier in den Augen, verstummt die Nachfrage." Was bis auf wenige Ausnahmen allen gemein ist, ist das Fehlen von Kindern. Da haben sich die Ostdeutschen schnell angepasst. Das ursprünglich vorgesehene Kapitel über Erziehung ist deswegen auch nicht zustande gekommen. Für die Kurzbiographien am Ende des Buches haben die Herausgeber alle Autoren gebeten, zwei Fotos einzuschicken: eins von 1989 und ein aktuelles. Auch ohne eine Zeile des Buches lesen zu müssen, erfährt man eine ganze Menge aus den Veränderungen in ihren Gesichtern. Interessant wäre es, die Autorinnen und Autoren in zehn Jahren noch einmal zu befragen.
Das Buch der Unterschiede. Warum die Einheit keine ist. Herausgegeben von Jana Simon/Frank Rothe/Wiete Andrasch. Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 237 S., 29,90 DM
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