Auf dem Lichtenberger Bahnhof steht auf Gleis 21 der Zug nach Kostrzyn bereit. Nach und nach kommt eine illustre Reisegesellschaft zusammen - Händler mit großen leeren Taschen, Polinnen, die von der Arbeit nach Hause fahren, ein Paar, das mit einer VBB-Tageskarte zum Basar nach Kostrzyn möchte, zwei Frauen mit Fahrrad, die auf die Züge im Osten schimpfen, weil ihnen der unbeschwerte Zutritt durch eine Haltestange in der Mitte der Tür versperrt ist. Die Stecke befahren im Westen ausrangierte Dieseltriebwagen. Zum Glück lassen sich bei der Hitze die Fenster öffnen.
Neben den Bahnhöfen der Ostbahn zwischen Strausberg und Gorgast stehen die Autos der Pendler, die täglich nach Berlin fahren müssen. Arbeit gibt es im Oderbruch kaum noch. Im Kreis Märkisch-Oderland waren es im Juni 19.691 Jobsuchende. In manchen Familien gibt es auch ohne Hartz IV kein Fünkchen Hoffnung mehr, die Kinder, die die Suche nach Arbeit in andere Landschaften zog, werden nie wieder zurückkommen. In dunklen Momenten scheint es, als sollte das Werk von Friedrich II., die Oderlandschaft urbar zu machen, in den nächsten zwei Generationen wieder rückgängig gemacht werden.
Die Strecke der Ostbahn ging einst bis nach Königsberg. Jetzt ist sie eingleisig bis Kietz-Küstrin. Auf dem zweiten Gleisbett sind Birken und Robinien gewachsen. Nach einer Stunde sehe ich am Horizont zwei rauchende Schornsteine. Die gibt es nur noch in Polen.
Die Grenzstadt Kostrzyn lebt vom Verkauf. Benzin, Pilze, Frauen, Zigaretten, geflochtene Körbe. In den Supermärkten von Lidl und Intermarché sind Dreiviertel der Kunden Familien aus dem Oderbruch, die mit Euro bezahlen. Auch an den Tankstellen überwiegen deutsche Kennzeichen. Der Weg vom Bahnhof bis zur Festung führt vorbei an leeren Flächen und über mehrere Brücken, die Warta und Oder überspannen. An den Ufern stehen Angler. Auf dem Basar ist nicht viel los.
In diesem Sommer hat das internationale Kunstprojekt "Urban loci" 19 Künstler eingeladen, die Altstadt Kostrzyns - bekannt als Festung Küstrin - mit Installationen zu beleben. Die Altstadt ist ein Schild der Bahn inmitten einer Steppe, ein polnisches Karthago. Man könnte es auch Pompeji vor den Toren Berlins nennen. Die Umrisse der Apothekergasse, Schornsteinfegergasse, Rosengasse oder Bäckergasse sind noch da, doch das Leben hat sich verflüchtigt.
Ich bin der einzige Gast an diesem Nachmittag. Die ersten hundert Schritte scheint es mir, als sei es vollkommen still in der toten Stadt. Als wäre ein Weltvakuum darüber gestülpt und nur ich kann noch atmen, alle anderen sind tot. Der Weg, den ich entlanggehe, ist befestigt mit Bernburger Pflaster, Granitplatten, Bordsteinen und buckligen Katzenköpfen, wie die Straßen in den Gründerzeitvierteln Berlins. Früher hieß der Pfad Berliner Straße, aber wann früher war und wie lange es her ist, scheint für einen Moment vollkommen im Dunkeln zu liegen. Nur allmählich sind sehr weit entfernt, hinter dem blau erleuchteten Berliner Tor, die Geräusche des Grenzübergangs zu hören. Das Abbremsen der Autos vor dem Schlagbaum. Der Moment der Ruhe. Das Anfahren. Seit dem Beitritt Polens zur EU werfen die Grenzbeamten nur noch einen flüchtigen Blick in den Pass.
Die Altstadt ist bis einen halben Meter über dem Fundament abgetragen, aus allen Ritzen wuchert Grün. Für den Wiederaufbau Warschaus brauchte man Steine, die neuen Westgebiete Polens waren die ersten Jahre nach dem Krieg noch kaum besiedelt, die Festung war ein aufgegebenes Fort am Rand der Weltgeschichte, das man allmählich vergaß. Einst war hier Katte geköpft und Friedrich II. preußisch zurechtgebogen worden, aber darüber stolpert man nur noch bei Fontane.
Behutsam haben die Künstler ihre Schneisen in das Festungsgelände geschlagen. Das Schloss ist als Luftschloss wiedererstanden, auf dem Gelände der ehemaligen Stadtkommandantur blinkt eine Leuchtreklame: "Morgenthau", dessen Plan hier auf einem Quadratkilometer Wirklichkeit geworden ist. Ein Künstler hat auf den Steinfußboden einer Fleischerei ein Wohnzimmer aufgebaut, ein anderer neben dem Schloss eine Bodenluftabsauganlage errichtet, aus einem Gebüsch klingen patriotische Gedichte, die noch vorhandenen Schwellen in der Webergasse wurden mit Türen versehen und Kröten angesiedelt. Keiner der Künstler drängt sich dem Ort auf, sondern tritt in Dialog mit ihm.
Auf dem Kattewall spielen zwei vielleicht fünfjährige Mädchen. Sie haben ihn wie selbstverständlich in Besitz genommen, vor allem das Periskop, mit dessen Hilfe man aus einem Fenster zwei luftige Stockwerke über dem Kattewall auf die Oder blicken kann, die nur wenig Wasser führt.
Was für ein Ort inmitten von Europa! Völlig funktionslos. Zu nichts nütze. Die Verwertung blieb im Ansatz stecken. Am Rand hat ein Investor versucht, eine Straße mit postmodernen Häusern zu bebauen. Die Rohbauten stehen zum Verkauf.
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