Am Morgen des 27. März 1952 ging ein Fotograf in die Berliner Fruchtstraße und stellte gegenüber der Nr. 51 sein Stativ auf. Begleitet wurde er von einem älteren Mann mit einer vier Meter langen Maßlatte, der, die Stange vertikal ausgerichtet, vor der Kamera und mit dem jeweiligen Haus im Rücken posieren musste. Die Stange reichte bis an die Oberkante der Eingangstüren. Die Nr. 51 war allerdings noch nur ein Fundament, das zum Block C-Süd der Stalinallee gehörte. Der Bau der Prachtstraße interessierte den Fotografen nur am Rande. Er war freier Mitarbeiter für die Stadtplanung des Magistrats von Berlin und fotografierte vorwiegend bekannte Plätze im Osten der Stadt, wie den Pariser Platz oder den Schlossplatz. Das waren leere, von Trümmern beräumte Flächen. Manchmal aber wurde er auch in Wohnviertel geschickt, mit denen das Stadtplanungsamt etwas vorhatte.
Im Fall der Fruchtstraße ging es wohl um den Abriss. 31 Mal musste der Fotograf auf den Auslöser seiner Plattenkamera drücken, dann hatte er 650 Meter Fruchtstraße im Kasten, von der Nummer 51 bis zur Nummer 76, 24 Häuser, von denen zwei nicht mehr existierten. Rechnet man zehn Minuten pro Bild - er musste den besten Standort finden, das Stativ justieren, die Kamera aufschrauben, unter seinem Tuch verschwinden, den richtigen Ausschnitt wählen, die Schärfe einstellen, den Auslöser drücken, die Platten wechseln - brauchte er etwas über fünf Stunden. Die Platten wurden entwickelt, angesehen und abgelegt, der Fotograf verschwand spurlos, die Fruchtstraße wurde abgerissen. Mehr als 50 Jahre später entdeckte der Fotograf Arwed Messmer das Konvolut in der Architekturabteilung der Berlinischen Galerie. Er setzte die Bildfolgen zu einem Panorama zusammen, ließ es ausdrucken und schickte es mir zusammengerollt in einer Papphülle. Ich sollte ihm etwas über den Alltag der Straße erzählen. Sieben Meter Fruchtstraße hingen nun an meiner Wand. Aber wo sollte ich anfangen?
Dunkel erinnere ich mich, dass die Straße der Pariser Kommune am Ostbahnhof einmal Fruchtstraße geheißen hatte, aber die hatte nichts mit der Realität des Jahres 2008 zu tun. Das Panorama zeigt eine Wohnstraße mit etwas derangierten Häusern aus der frühen Gründerzeit, die Straße der Pariser Kommune dagegen ist ein Unort an der Karl-Marx-Allee. Besonders unwirtlich wird sie nach zweihundert Metern, wenn sie sich zum Franz-Mehring-Platz hin öffnet. Es ist nicht mehr als eine Ansammlung von Plattenbauten, die Stadtplaner bezeichnen den Platz als "Lärmschneise". Nur an der Karl-Marx-Allee gibt es noch wenige alte Häuser, die ich beim Blick auf das Panorama wiederzuerkennen glaubte.
Zwei Tage lief ich die fotografierte Straße an der Wand auf und ab und beobachtete die Häuser. Ich schaute mit der Lupe in Toreinfahrten und an den Fassaden entlang, zählte die Invaliden unter den Häusern, die mit den Notdächern und ausgebrannten Etagen, die mit weggerissenen Giebeln und die mit herausgesprengten oder mit Einschusslöchern übersäten Fassaden. Der Krieg hatte sie von allem Blendwerk befreit. Selten, dass es noch mal ein Löwen mit aufgerissenem Maul gab, der an der Fassade klebengeblieben war oder gar eine überlebensgroße Jugendstilfigur wie an der der Nr. 59.
Ich rätselte, in wessen Besitz "_ _ _ ne´s" Industriepalast und was daran Palast gewesen war und ob die Fruchtklause in der Nr. 72 überhaupt noch existierte. Es war auch nicht ganz klar, ob die sechs anderen Kneipen am Abend öffnen würden und ob Löwen-Böhmisch eine Biersorte war, die noch ausgeschenkt wurde. Macis Eisladen dagegen würde ganz sicher erst wieder im Mai öffnen. Große vollverglaste Schaufenster waren selten, die meisten Geschäfte hatten noch die Nachkriegsverglasung in den Fenstern, einige nicht größer als Bullaugen, der Rest der Fläche zugemauert oder mit Pappe vernagelt, die Auslagen dürftig.
Ich beobachtete die Leute, die in Richtung Stalinallee oder Ostbahnhof davonhasteten, mit ihren Akten- oder Einkaufstaschen. Müßiggänger gab es, bis auf ein paar Kinder, nicht. Vor der Nr. 54 glaubte ich, ein Mädchen schlüge ihren Bruder mit einer Peitsche, aber dann entdeckte ich mit der Lupe, dass sich am Ende der Peitsche ein Kreisel drehte und der Junge genau in diesem Moment zur Seite sprang, um nicht getroffen zu werden. Die Schulkinder kamen später am Tag, erst auf Bild 29 taucht das erste Kind mit Schulmappe auf, da war es schon weit nach Mittag. Aber wo wollten die beiden jungen Matrosen hin?
Das Datum der Aufnahme ist der 27. März 1952. Dass es Frühling sein muss, erkennt man auch, ohne das Datum zu wissen und obwohl es weder Baum noch Strauch in der Straße gibt. Die Leute tragen schwere Mäntel und Jacken, die meisten auch Kopfbedeckungen, aber das Licht ist nicht mehr das des Winters. Außerdem findet man in dem einen oder anderen Fenster Forsythienzweige oder Hyazinthen. Wahrscheinlich weiß hier niemand mehr, dass auf den Grundstücken der Häuser noch vor hundert Jahren Gärten waren, in denen Hyazinthen wuchsen, auf deren Züchtung sich vor allem die eingewanderten Hugenotten spezialisiert hatten. Es ist ein unbedeutender Nebenpfad, wie auch der, dass die Straße bis 1820 Bullenwinkel hieß und auf Antrag der Bewohner, die den Namen geschäftsschädigend fanden, in Fruchtstraße umbenannt wurde. Hier geht es um die Gegenwart eines Märztages 1952. Da interessieren auch die Huren, Luden und Ringvereine nicht mehr, die die Gegend um den Schlesischen Bahnhof bis zum Krieg unsicher machten.
Im Schaufenster des Spielzeugladens in der Nr. 67 stehen Osterhasen. Wann war Ostern in diesem Jahr? Wann begannen die Ferien? Für solche Informationen muss man heute nicht mehr aus dem Haus gehen, ein Klick im Netz und ich erfahre, dass der 27. März 1952 ein Donnerstag war, Ostern erst in 14 Tagen und die Ferien schon ab kommenden Montag. Dass die Sonne am 27. März um 5.50 Uhr aufging und um 18.25 Uhr wieder unter. Für die Tagestemperatur allerdings muss ich in die Stadtbibliothek fahren und die Berliner Zeitung des Tages zu Rate ziehen. Deren Wetterbericht kündigt eine Höchsttemperatur um den Gefrierpunkt an. Was erklärt, warum der Mann mit der Maßlatte auf den ersten Bildern oft die Hände in den Taschen hat und die Latte etwas nachlässig an der Wand lehnt. Dass die Straße ihren Frühlingsanfang trotzdem hinter sich hat, sieht man daran, dass die dicken, vor Zug schützenden Decken aus den Fenstern schon weitgehend verschwunden sind. Die Berliner Verkehrsseiten verraten mir, dass die Oberleitung an den Häusern zu einer O-Buslinie gehört, die als Linie 40 seit August 1951, vom Ostbahnhof kommend, durch die Fruchtstraße über Leninplatz, Rosa-Luxemburg- und Rosenthaler Platz zum Robert-Koch-Platz an der Charité fährt.
Autos gibt es kaum, aber noch eine Trümmerlok, die Schienen provisorisch über die Straße verlegt. Sie fährt die Trümmer der zerstörten Häuser der Müncheberger Straße über die Fruchtstraße zum Bahnhofsgelände, vorbei an einer Litfasssäule, die den neuen Roman von Makarenko, Flaggen auf den Türmen, als Fortsetzungsroman im Sonntag ankündigt. Eine Ausgabe der Wochenzeitung hängt drei Häuser weiter an der Wand des kleinen Zeitungsladens im Souterrain der Ruine Nr. 73.
Über die ganze Straße sind Parolen verteilt. Mehrfach ein schlichtes JA, mit Farbe an die Fassaden gemalt und schon leicht verblasst. Die meisten Plakate sind von den III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1951 übrig geblieben, auch das Porträt von Kim Ir Sen, alias Kim Il-Sung, Herrscher über Nordkorea. Am deutlichsten ist die immer gleiche Losung über den drei Konsumverkaufsstellen der Straße: Das deutsche Volk will keinen Bruderkrieg. Wir fordern einmütig den Abschluss eines Friedensvertrages. Zwei Wochen vorher, am 10. März hat Stalin den Westmächten Verhandlungen über einen Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland vorgeschlagen, der den Abzug aller Besatzungstruppen und die völlige Bündnisfreiheit Deutschlands vorsieht. Vor zwei Tagen haben die Westmächte das Angebot abgelehnt, was weitreichende Folgen, auch für den Fotografen haben wird.
Im Berliner Adressbuch, das die Berliner Landesbibliothek ins Netz gestellt hat, erfahre ich mehr über die Bewohner der Straße, zumindest die, die bis 1943 hier lebten, als die letzte Ausgabe erschien. Es waren vorwiegend Arbeiter, Handwerker und kleine Gewerbetreibende, selten mal ein Angestellter. Sie wohnten in Wohnungen, die klein und ohne Komfort waren und die, wenn sie im Vorderhaus lagen, meist geteilt waren, manche bis in die achtziger Jahre. Das erzählten mir allerdings nicht die Adressbücher, sondern die Bauakten, die in der dritten Etage der Bauaktenarchivs im Kreuzberger Rathaus unter dem Buchstaben S - Straße der Pariser Kommune abgelegt sind. Ein Gewirr von Häusern, aneinandergelehnt in blau-weißen Pappboxen. Ich weiß seit dem Besuch dort, dass die fehlenden Buchstaben an der Fassade der Nummer 57/58 den Namen Choné ergeben, der Gärtner und erster Besitzer des Grundstücks war, das sich bis in die Große Frankfurter Straße zog, 1943 32 Mietfabriken beherbergte und während des Krieges bis auf das Wohnhaus vollkommen zerstört wurde. Es war also seit sieben Jahren vorbei mit dem Industriepalast. Ich erfuhr auch, dass es in der Straße permanent nach Sauerkraut gerochen haben muss, weil der Hermann Juncker den ganzen Tag bei undichten Dächern und Fenstern Sauerkraut stampfte, dass Major Monasterski seine schützende Hand über Frieda Schneider, die Besitzerin des Motorradladens in der Nr. 64 hielt und die Buchhandlung des Ostens schon seit Jahrzehnten existierte, der Konsum aber neu war in der Straße und dabei, sich über die ganze Länge auszubreiten, wie ein süßer Brei. Die Nummer 55 bekam die Genossenschaft gleich ganz. Es war das Haus, in dem das Fräulein Plehn um 1900 zwei Jahre darum gekämpft hatte, eine höhere Schule für Mädchen zu errichten. Das Gebäude gibt es heute noch, der Konsum ist verschwunden.
Zu gern hätte ich noch gewusst, was sich hinter dem Elektrisieren verbarg, das die staatlich geprüfte Masseurin Lucie Ehrmann neben Infrarot, Heißluft und Höhensonne in ihrer Praxis in der Nr. 72 anbot. Aber 1972 hieß es in der Bauakte: "Das Haus wurde abgetragen. Die Baustelle ist vom alten Schutt geräumt. Es ist nichts mehr zu veranlassen. Wendland."
Das Panorama der Fruchtstraße wird in der Ausstellung Soweit kein Auge reicht. Berliner Panoramafotografien 1951/52 zu sehen sein. Berlinische Galerie, 2. 11. 2008 bis 16. 2. 2009.
Von Annett Gröschner ist eben erschienen: Parzelle Paradies, Berliner Geschichten, Nautilus. Berlin, 224 S., 16,50 Euro
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