Kühl gerechnet

Alltag I Rosi Z. hat 25 Jahre lang die Finanzen einer LPG verwaltet. Die Fähigkeit kühler Kalkulation befähigt sie auch heute zu einem guten Leben

Rosi Z.* wohnt in einem kleinen Dorf im Kreis Märkisch-Oderland, der sich neben einer abwechslungsreichen und einigen Stellen durchaus schön zu nennenden Landschaft durch 30 Prozent Arbeitslosigkeit und der jährlichen Abwanderung von 500 Jugendlichen auszeichnet. In den Dörfern bleiben Eltern wie Rosi Z. zurück. Rosi Z. hat ihre Kinder quer durchs Land verteilt. Ein Sohn ist in Berlin, ein anderer in Kassel, die Tochter in München. Die beiden letzteren sieht sie höchstens zu Weihnachten. "Dafür hätte die Mauer nicht fallen müssen", sagt sie scherzhaft, wenn jemand sie danach fragt, "ich hätte zwar kein Telefon, aber auch keine Telefonrechnung. Oder hast du schon mal erlebt, dass dein Kind dich freiwillig anruft?" Die anderen nicken, denn ihnen geht es auch nicht besser.

Rosi Z. liebt ihren Garten, ihr Haus und ihr Dorf, in dieser Reihenfolge. Deshalb zieht sie einen Umzug nicht in Erwägung. Sie ist hier geboren und möchte hier auch begraben werden. Sie sagt, dass sie auf dem Recht beharrt, ihre Heimat selbst zu bestimmen.

Rosi Z. ist eine kühle Rechnerin, sie hat schließlich 25 Jahre lang die Finanzen der örtlichen LPG verwaltet, und die Abrechnungen stimmten immer. Der Nachfolgebetrieb brauchte ihre Rechenkünste nicht mehr, weil nur noch drei Leute fest angestellt sind. Rosi kam als Finanz- und Putzfrau in der örtlichen Arztpraxis unter. Nebenbei betrieb sie mit ihrem Mann Heinz, der in der LPG als Traktorist gearbeitet hatte und nach etlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen arbeitslos war, einen Getränkestützpunkt in der zum Laden ausgebauten Garage. Jeden Mittag, 13 Uhr, wechselte Rosi von der Arztpraxis in den Getränkeladen, wo Heinz schon saß und die Spirituosen auf ihre Genießbarkeit prüfte. Ab 19 Uhr konnte im Getränkestützpunkt geraucht werden. Eigentlich gefiel Rosi die Arbeit. Die Leute kamen sie besuchen und brachten den Klatsch mit, ab und zu fing einer an zu tanzen oder musste ein anderer getröstet werden. Langweilig war das nie. Die Garage war die Kneipe für die Armen, die sich die Dorfschenke wegen der Bierpreise nicht mehr leisten konnten. Irgendwann aber waren Rosi die beiden Jobs zuviel, zumal Heinz immer mehr sein eigener Kunde wurde. Sie wehrte sich mit einer langwierigen Krankheit, und der Getränkestützpunkt war Geschichte.

Das Dorf war zu DDR-Zeiten ein sozialistisches Musterdorf mit Schule, Kindergarten, Kulturraum, HO-Gaststätte und einem sozialistischen Friedhof, der im Gegensatz zum christlichen, auf dem zu DDR-Zeiten nur Selbstmörder und Außenseiter begraben wurden, ordentlich abgezirkelte Gräber mit Betonsteineinfassungen hat, zwischen denen sich Stiefmütterchen drängen. Die Wege dazwischen werden seit kurzem täglich von einem Ein-Euro-Jobber gefegt. Die Feierhalle sieht aus wie anderswo ein Schuppen der Freiwilligen Feuerwehr, aber die Dorfbewohner sind heute noch stolz darauf, denn er wurde von ihnen in Eigenleistung errichtet.

Auf dem Friedhof liegen auffällig viele Männer, die mit Mitte 50 gestorben sind und ein paar Jüngere, die sich in den neunziger Jahren mit ihren neuen Autos um die heimischen Bäume gewickelt haben. Die Älteren sind vorzugsweise am Suff oder alkoholbedingten Nachfolgekrankheiten gestorben. Alkohol ist in dieser Gegend das für die Menschen, was Sprit für die Autos ist. Dass ein Krankheitsbild Alkoholismus existiert, ist hier erst seit 15 Jahren bekannt. Vorher war der Alkohol Belohnung zum Feierabend. Geschlechtsspezifische Unterschiede gab es nur dahingehend, dass die Frauen mehr vertrugen und mit steigendem Alter aus einer diffusen Art von Selbstschutz den Konsum einschränkten. Rosi Z. erzählt gern die Geschichte von Helga K., die auf Dorffesten ihrem Mann das Schnapstrinken ab 16 Uhr erlaubte, weil sie wusste, dass er spätestens um 19 Uhr hinter einer Hecke schlafen oder nach Hause torkeln würde, während sie sich dem gepflegten Trunke und den noch aufrechten Junggesellen hingab.

Rosi hat, im Gegensatz zu ihrem Mann, das Trinken schon vor Jahren aufgegeben, sieht man mal vom Johannesbeerlikör ab, den sie sich manchmal mit ihren Gartenfreundinnen genehmigt.

"Tu mir einen Gefallen", hatte Rosi immer wieder zu ihrem Mann gesagt, "fall nicht im Suff die Treppe runter und brich dir das Genick. Dann denken alle, ich hätte nachgeholfen." In den letzten Jahren waren einige Männer des Dorfes ungeschickt in ihren Häusern zu Tode gestürzt und immer hatte es spätestens nach der Urnenbeisetzung Gerede gegeben, von wegen natürlichem Tod.

Nachdem für Heinz rund um die Uhr Feierabend war, hatte er seine Tage vor dem Fernseher verbracht, wo er pausenlos Trickfilme sah. Als Rosi an besagtem Morgen ins Wohnzimmer kam und zwischen Flaschenbatterien ihren Mann liegen sah, wusste sie gleich, dass etwas nicht stimmte. "Da war die Seele weggeflogen, und das spürte man an so einer eigenartigen Stille", erzählte sie später ihren Gartenfreundinnen.

Nachdem der Discount-Bestatter die Leiche abgeholt hatte, nahm Rosi noch die letzten Beileidsbekundungen entgegen und versicherte, dass ihr Mann ganz sicher nicht die Treppe heruntergefallen war, dann schloss sie sich im Haus ein und legte den Hörer neben das Telefon.

Als sie nach zwei Tagen wieder aufschloss, hatte sie alles durchgerechnet: Die Kosten für Strom, Gas, Telefon und Grundstückssteuer, Versicherung, Sprit, Müllabfuhr und Einkaufsreisen ins nahegelegene polnische Küstrin, Geschenke für die Kinder und Unvorhergesehenes, das sie mit 100 Euro pro Monat ansetzte, nach reiflichen Überlegen aber auf 50 Euro verringerte, Saatgut und Kaninchenfutter wurden dem schmalen Verdienst entgegengestellt. Sie kam zu dem Schluss, dass sie auch ohne Unterstützung ihr Haus würde halten können. Luxus jeglicher Art fiele allerdings weg, die Heizung würde nur bei Minusgraden angemacht und stattdessen mit Holz geheizt werden. Zu den Geburtstagen ihrer Gartenfreundinnen würde sie Steuerabrechnungen oder Fensterputzleistungen verschenken, für das gute Aussehen müsste sie eine arbeitslose Friseuse zum als Gartenfest getarnten Haareschneiden einladen und sie mit Gemüse aus dem Garten bezahlen. Darauf genehmigte sie sich erstmal einen Johannisbeerlikör. Dann ging sie durchs Dorf, um ihren Entschluss zu verkünden.

Noch einige Tage hörte sie nachts Schritte und Knarzen im Haus, bis es ihr reichte. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und schrie: "Heinz, nu is jut." Seitdem ist Ruhe.

* Im Text wurden die Namen redaktionell geändert

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