Über den Revolutionär Oswaldo Barreto Miliani gibt es in Venezuela unendlich viele Geschichten. Kaum eine entspricht der Wahrheit - schließlich ist Lateinamerika die Heimat des magischen Realismus und Ort grober Übertreibungen. Angeblich kam er drei Monate nach seinem schönen blauäugigen Bruder, der bald starb, als behaartes Tier auf die Welt, war homosexuell, lebte mit einem Esel zusammen, hat aber gleichzeitig jede Frau und jedes Mädchen im östlichen Venezuela entjungfert und Kinder soviel wie das Jahr Tage, war Bordellbesitzer, Leichenfledderer, Brandschatzer und hat als Serienbankräuber noch heute Millionen auf Offshorekonten, außerdem wurden seine Unternehmungen mit deutschem Geld zweifelhafter Herkunft bezahlt.
Jetzt hat die Schriftstellerin Lisa St Aubin de Terán mit einigen dieser Legenden aufgeräumt, nicht ohne andere, nicht weniger exotische Geschichten des lateinamerikanischen Revolutionärs zu erzählen. Sie tut das aus der Perspektive von Oswaldo Barreta selbst, obwohl der es Zeit seines Lebens eher mit José Marti gehalten hat: "Die beste Art des Erzählens ist die Tat." Was seine Taten angeht, so hat er im Laufe seines Lebens, er wurde 1934 geboren, eine Reihe von Fehlschlägen einstecken müssen, um die es im Buch geht. Sein "letzter Versuch einer Tat" ist das Erzählen selbst. Ob es sich hierbei um die Wahrheit handelt, sei dahingestellt. Nicht von ungefähr behauptet das Buch, ein Roman zu sein. Es ist eine Jahrhundertbiographie aus lateinamerikanischer Sicht.
"Ich hatte mehr Glück als Verstand", erzählt Otto. "Ich habe Geburt, Kindheit, Krankheit, Jugend, Krieg und Frieden überlebt. Was die Revolution angeht, da bin ich wie ein Hamster! In diesem Rad laufe ich seit fünfzig Jahren: Venezuela, Ungarn, Uruguay, Paraguay, Peru, Kuba, El Salvador, Algerien, Chile, Paris, Italien, Iran und China. Ich war bei geradezu unanständig vielen Revolutionen dabei." Erzählt wird der Verlust jeglichen Glaubens und das revolutionäre Scheitern, ohne zu denunzieren. Denn der Mangel an Gerechtigkeit, vor allem in Lateinamerika war es, der Barreto zur Guerilla führte und gerecht geht es ja bekanntlich auf der Welt bis heute nicht zu. Da hat sich seine Sicht auf die Dinge keineswegs geändert.
Schon als Jugendlicher in den Anden ist er ein begeisterter Leser und begnadeter Redner, der es früh zu regionalem Ruhm bringt. Er gilt als aufsässig, was angesichts der Diktatur, die im Land herrscht, nicht ganz ungefährlich ist. Er geht über Spanien und Tübingen (im Buch gibt es eine bizarre Schilderung der westdeutschen Nachkriegszeit) nach Paris zum Studium und wird dort, nachdem er Augenzeuge einer blutig endenden Demonstration am Nationalfeiertag 1953 wird, ein glühender Anhänger der algerischen Befreiungsbewegung, die er auch vor Ort unterstützt.
Im Laufe seines revolutionären Lebens muss Barreto oft Abschied nehmen, nicht nur von vielen seiner Gefährten, die im Laufe des Kampfes sterben. Schon 1965 entfremdet er sich vom Kommunismus angesichts des freudlosen Lebens in Prag, das er in Vorbereitung einer Konferenz mit seiner iranische Ehefrau besucht, später kommt noch der Bruch mit der kubanischen Revolution hinzu. Die Jahre zwischen 1965 und 1973 sind das Herzstück des Buches. Von den Kubanern, sowohl von Fildel Castro, als auch von dem sich langsam von der Insel verabschiedenden Che Guevara erhoffen sich die venezolanischen Revolutionäre, die überall in Europa verstreut im Exil leben, Unterstützung in ihrem Guerillakampf. Den Erfolg Castros und seiner wenigen Gefährten in Kuba vor Augen, wollen sie mit wenig mehr als 100 Mann die Revolution nach Venezuela tragen.
Zwei Jahre werden sie unter härtesten Bedingungen - zwei Kämpfer sterben allein bei der Vorbereitung - in Kuba ausgebildet, ehe ihnen plötzlich jede Unterstützung durch die Kubaner entzogen wird. 1967 scheitert Che in Bolivien und Fidel Castro möchte sich nicht weiter in die Angelegenheiten des lateinamerikanischen Festlandes einmischen. Barreto und seine Mitkämpfer machen sich auf eigene Faust auf die Suche nach einem Finanzier für die Überfahrt. Sie hoffen Unterstützung in Peking bei den Chinesen zu finden, müssen aber bald erkennen, dass die Abgesandten Maos zwar über jeden ihrer Schritte im Bilde, nicht aber bereit sind, fuer dieses Abenteuer Geld zu geben. Am Ende bleiben noch 17 Guerilleros übrig, die 1969 ohne jegliche internationale Unterstuetzung im Osten Venezuelas landen, "nur um dann im Gelände herumzuirren wie Deppen in einer Burleske", und schließlich zu der bitteren Erkenntnis kommen, dass die Guerilla im ländlichen Venezuela keine Basis hat. "Ihr fehlte die Unterstützung des Volkes, die nötig gewesen wäre, um ihre Existenz zu rechtfertigen, und sie war in fast zehn Jahren nicht nennenswert weitergekommen. Keine ihrer Forderungen war erfüllt, kein Missstand war abgestellt oder auch nur gemildert worden. Kurz gesagt, sie war als Bewegung gescheitert.
Statt sein Volk muss Oswaldo Barreto seine eigene Haut retten. 1969 bis 1972 lebt der Rest der Gruppe in Mailand, London, Oxford und Stockholm, überwacht von CIA und Interpol, die jeden ihrer Schritte verfolgen.
Oswaldo Barreto redet über alles und jeden, vor allem über sich selbst und das nicht ganz frei von Eitelkeit und Machismo. Nur über die Folter, die er während seines Gefängnisaufenthaltes in Caracas Ende der fünfziger Jahre erfahren hat, fällt ihm das Reden schwer. Nur an wenigen Stellen erfährt der Leser, dass "Otto" wegen des Hängens an Füßen und Händen Dauerschmerzen in den Gelenken hat und keine Nacht mehr schlafen kann, was absurderweise aber dazu führt, dass er ein Vertrauter von Fidel Castro wird, denn er ist der einzige, der nach mehreren Stunden nächtlicher Lesung Castros aus Revolutionsbriefen nicht eingeschlafen ist. Er versucht, das Erlebnis der Folter von sich abzuspalten, aber sie verfolgt ihn und schleicht sich immer wieder zwischen die Zeilen, bis hin zu der Szene ganz am Ende des Buches, als Barretos Herz zu hüpfen beginnt, weil er einen Bekannten erkennt, der sich auf den zweiten Blick als sein Folterer herausstellt.
St Aubin de Térans Buch ist gattungsspezifisch weniger ein Roman als eine biographische Erzählung, die einer strikten Chronologie folgt. Sie kommt, bis auf ein paar gelegentliche Nebenbemerkungen, ohne Analyse der damaligen Verhältnisse in der Welt aus. Zwischen all den Ereignissen, Begegnungen mit Personen der Zeitgeschichte, Langeweile im Urwald und ständigen Kontinentwechseln geht manchmal unter, warum Oswaldo Barreto nicht eigentlich eine ruhige Akademikerlaufbahn in Frankreich, Deutschland oder Venezuela eingeschlagen hat. Ohne Wissen über die Befreiungsbewegungen der Dritten oder blockfreien Welt in der Mitte des 20. Jahrhunderts wird man viele Schritte "Ottos" und seiner Guerilleros von vornherein als sinnlos ansehen. Warum läuft einer tagelang durch den Dschungel, ohne Wasser, mit einer Mosquitoallergie, nur um am Ende zu konstatieren, dass die Gruppe im Kreis gelaufen ist?
Das Buch ist aus dem Erlebnis des revolutionären Scheitern im 20. Jahrhundert und der späten Erkenntnis heraus erzählt, dass niemand das Recht hat, einen anderen Menschen zu zwingen, sich zu befreien. "Es gibt nicht die eine Befreiung, es gibt verschiedene Befreiungen. Eine Revolution ist nur zu rechtfertigen, wenn viele Menschen gleichzeitig zu der Erkenntnis gelangt sind, dass ein Wandel stattfinden muss, und nicht, wenn sie einem leuchtenden Vorbild nacheifern, ob das ein Mensch ist oder eine Partei."
"Deckname Otto" ist nicht nur wegen der vielen Protagonisten des 20. Jahrhunderts, mit denen "Otto", auf welche Weise auch immer, zu tun hatte, spannend bis zur letzten Seite. Die Geschichte wird aus einer anderen Perspektive erzählt als die, die in den Geschichtsbüchern festgeschrieben ist. Vor allem die Schilderung der Ereignisse des Militärputsches in Chile am 11. September 1973 aus der Sicht eines in Venezuela Gesuchten, der vor dem Putsch, der sich auch gegen Ausländer richtet, aus Verzweiflung in die Botschaft seines Heimatlandes fliehen muss und dort wieder zu einem auf seinen richtigen Namen lautenden Pass kommt, ist brillant.
In einem handgeschriebenen und kopierten Brief, der den Rezensionsexemplaren beigegeben ist, behauptet die Autorin, dass ihr Buch einmalig im Hinblick auf die Einflechtung einer wahren Geschichte in ein fiktives Werk ist. Nur 100 der fast 600 Seiten seien von Barreto selbst auf Tonband aufgezeichnet, in das Buch eingeflossen. Es ist allerdings seit langem ein probates Mittel, Biographien mit Fiktivem anzureichern, das höchstens den Gattungspuristen Sorge bereitet.
In der Kunst des narrativen Interviews Geschulte werden stutzen an den Stellen, wo nicht weitererzählt wird, wo Geschichten abbrechen oder ins Nebulöse abdriften. Das betrifft nicht nur die Erlebnisse im venezolanischen Gefängnis, sondern auch den weiteren Lebensweg seines wichtigsten Mitkämpfers Elias, begnadeter Stratege und Militär. Er ging offenbar einen anderen Weg als Oswaldo, der seine akademische Laufbahn, die er für den bewaffneten Kampf aufgegeben glaubte, fortsetzte. Doch welchen? St Aubin deTerán lässt ihren Ich-Erzähler sagen, Elias´ Gruppe machte den ersten Schritt in "die Unterwelt und begann ihren Abstieg in die Dunkelheit." Das wird noch wortreich unterfüttert, bleibt aber kryptisch. Ein Roman hätte sich hier in die Fiktion gerettet.
Das Buch ist, so sagt es die Widmung, geschrieben "Für Otto - den echten, der sich entzieht". So ganz scheint das nicht zu stimmen, denn im Moment ist Lisa St Aubin de Terán in Deutschland auf Lesereise, in Begleitung eines Mannes, der als "Otto" Oswaldo Barreto Miliani angekündigt ist.
Lisa St Aubin de Terán: Deckname Otto. Roman. Aus dem Englischen von Ebba D. Drolshagen, Insel, Frankfurt am Main und Leipzig 2007, 573 S., 22,80 EUR
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