Lyriknacht

BERLINER ABENDE »Jürjen, Jürjen«, schreit ein Mann auf einer dieser künstlichen Straßen, die von der Alten Potsdamer abgehen. Jürgen steht drei Ecken weiter an einem ...

»Jürjen, Jürjen«, schreit ein Mann auf einer dieser künstlichen Straßen, die von der Alten Potsdamer abgehen. Jürgen steht drei Ecken weiter an einem LKW, steckt den Finger in den Mund und versucht zu kotzen. Er sieht aus wie ein Bauarbeiter, der hier am Potsdamer Platz vergessen wurde. Der ewige Wiedergänger im Zimmermannsanzug. In jeder anderen Ecke der Stadt hätte schon eine Stimme aus dem Fenster geschrieen: »Ruhe oder weeßte nich, wie spät es is.« Hier wohnt aber niemand. Der Potsdamer Platz - oder das, was man heute dafür hält - gehört den Touristen, nicht den Berlinern. Um Mitternacht ist er an anderen Tagen schon dreivierteltot, denn er lebt ausschließlich von Konsumenten. Wenn die beiden Betrunkenen um die Ecke wanken, werden sie Gedichte hören. Das wissen sie nur noch nicht, und wahrscheinlich wird es sie auch einen Scheißdreck interessieren.

Einen Tag zuvor ist der Literatur Express Europa 2000 in Berlin angekommen. Es war die Endstation einer Reise europäischer Schriftsteller durch Europa. Mein Sohn muss te Blumen überreichen wie wir früher als Pioniere. Er war ein bisschen enttäuscht, als er wieder nach Hause kam. Die meisten Dichter konnten die Blumen nicht gebrauchen, und außerdem war Joanne K. Rowling nicht dabei, die einzige Schriftstellerin, der mein Kind etwas abgewinnen kann. Die Kinder bekamen als Dank einen Lutscher und zwei Luftballons von den Organisatoren. Die Luftballons hingen noch eine ganze Weile an der Decke des Flurs, bis sie über Nacht auf wundersame Weise auf den Boden der Küche herabgesunken sind und einer die Kollision mit der Espressomaschine nicht überlebte.

Zur Ankunft der Reisenden hatte sich die am Literaturexpress beteiligte LiteraturWERKstatt etwas ganz besonderes ausgedacht, WELTKLANG, die Nacht der Poesie, gesponsert von DaimlerCrysler und dem Hauptstadtkulturfonds.

Die Lyriknacht ist eigentlich eine alte Sache. Ein besonderer Happen für Gourmets der Poesie. In den letzten Jahren fand sie im Garten der LiteraturWERKstatt statt. Man konnte zwischen den einzelnen Gedichten den Blick auf den Himmel schweifen lassen oder auf die Bäume auf dem benachbarten Villengrundstück. Es war still dort, und es kamen die Liebhaber der Poesie. In den Zeiten der Eventkultur aber ist diese Art von Genuss nicht mehr gut genug, und es musste der Potsdamer Platz sein.

Entlang der Alten Potsdamer Straße stehen Bier- und Bockwurstbuden. Über die Bücherstapel der Buchhandlung, die nebenan einen Stand hat, zieht ein strenger Geruch nach Bratfett. Von hier aus kommen einem die Dichter auf der weiß ausgekleideten Bühne vor wie bestellte Clowns. Etwas verloren stehen sie zwischen den Baumassen, Manhattan links und Vorstadtmoderne rechts. »ARM UND REICH Eine geteilte Kundschaft/ES IST GRAUENHAFT Bezahlen und Stehlen/Ich genieße das ungeteilte Interesse«, liest Volker Braun. Neben der Bühne gehen gänzlich Unbeteiligte in die Bank und ziehen sich Geld. In der Sushi-Bar defilieren die Gerichte auf Laufbändern.

Zum Event gehört natürlich auch ein hauptstadtkulturkompatibler Moderator. In diesem Falle ist es Volker Panzer vom ZDF. Vor jedem Lyriker hält er eine bonmotgespickte Laudatio von einiger Überlänge, die die zahlreichen Besucher mitunter so nervt, dass sie versuchen, ihn mit anhaltendem Beifall zum Aufhören zu zwingen. Volker Panzer steht das aus, besser gesagt, er tänzelt es aus, den Blick auf dem Blatt, von dem er abliest.

»Die Aprikosenbäume gibt es, die Aprikosenbäume gibt es«, liest die Lyrikerin Inger Christensen von der Bühne, und wie ein Echo schreit eine besoffene Touristengruppe zurück: »Die Aprikosenbäume gibt es, genau, die Aprikosenbäume gibt es, na hallo«. Von der anderen Seite schreit es: »Haltet die Klappe«.

»Hat die das selber geschrieben?«, fragt ein pickliger Sechzehnjähriger seine Mutter. »Ja, jeder Dichter liest seine Sachen selbst.« »Und warum hat die dann so gestottert?« »Die hat das eben so empfunden.« Für den nächsten im Programm, Gerhard Rühm, kann er sich mehr begeistern. »Sowat find ick echt lustig.«

Offensichtlich ist aber Gerhard Rühm vom Publikum nicht sehr eingenommen, denn zwischen zwei Texten sagt er: »Ich bin erstaunt, dass auch die meinen Texten noch etwas abgewinnen können, die nicht in der Lage sind, sie zu verstehen.« Das sitzt, und einer im Publikum bedankt sich lautstark für das Lob.

Als Volker Panzer zehn Minuten Pause ankündigt, gehen viele. Es ist lange nach Mitternacht und empfindlich kühl. Vor der Diskothek Blu becircen Mädchen mit nabelfreien Tops die Türsteher, die wie Reklameboys eines Fitnessstudios aussehen. Sie schauen die Mädchen von oben bis unten an. Dann lassen sie Gnade vor Recht ergehen und treten einen Schritt zurück. Bevor die Tür des Fahrstuhls zugeht, richten die Mädchen noch schnell ihre Haare.

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