Gegen 19 Uhr war klar: wir würden keine anständigen Menschen sein. Die Demonstration für Menschlichkeit und Toleranz würde ohne uns zu Ende gehen. Auch der Mauerfall hatte schon ohne uns stattgefunden, weil ich Friedrich damals nicht wecken wollte. Manchmal ist der Schlaf eines Säuglings eben wichtiger als Großereignisse der Geschichte, bei denen immer die Gefahr des Zerquetschtwerdens besteht. Elf Jahre später waren die Englischhausaufgaben Schuld, die Misses Schmidt dem Kind reichlich aufgedrückt hatte. Ich tröstete mich damit, dass wir in den letzten elf Jahren bei jeder Antirassismus-Demo dabei waren, als noch kein Politiker sich dafür interessierte und es immer Auseinandersetzungen gab, wenn wir in den Schwarzen Block gerieten und von den Kämpfern unsanft hinter die Barrikade zurückdiskutiert wurden: »Haut ab mit euern Blagen, ihr stört hier«. »Dear Marc, I want to invite to my birthdayparty«, schrieb Friedrich verzweifelt zum dritten Mal, und ich blätterte indes im Freitag, denn die Kinder sollten sich auf Bitten von Misses Schmidt bei den Hausaufgaben von ihren Eltern nicht helfen lassen. Ich war erstaunt über das Foto auf Seite 3 - die Redaktion des Freitag, vor zehn Jahren an eine Mauer gelehnt, auf der noch echte Sprüche und keine Grafitti-Hieroglyphen standen. Nebenan saß mein Sohn, der in den letzten zehn Jahren um mehr als einen Meter gewachsen ist. Die Freitag-Redakteure hingegen schienen sich kaum verändert zu haben, auch wenn die meisten mittlerweile bei Zeitungen arbeiten, die besser bezahlen. Stefan Reinecke trägt zwar keine Halstücher mehr, und Jörg Magenau würde sich sicherlich nicht mehr in Stehbündchenjacken ablichten lassen, aber auf eigentümliche Weise sehen sie immer noch genauso aus. Zwei Stunden später auf der Freitag-Fete in der Wabe konnte ich diesen Eindruck noch einmal per Augenschein bestätigen, denn da saßen sie fast alle zwischen mehreren hundert Gästen, wahrscheinlich alle verbliebenen Abonnenten auf einem Haufen, die meisten jenseits der vierzig.
Zehn Jahre hat der Freitag nun schon etliche Krisen überstanden, und ich kann sagen, ich bin dabei gewesen. Mittlerweile habe ich eine ganze Kiste letzter Ausgaben von Zeitungen und Zeitschriften, die den Zerfall des ostdeutschen Postzeitungsvertriebes, die Währungsunion, diverse Kompetenzstreitereien unter den Redakteuren oder den Abonnentenschwund der letzten zehn Jahre nicht überlebt haben. Schon einige Male dachte ich, demnächst würde auch die letzte Ausgabe des Freitag in die Kiste wandern, aber irgendwie ging es immer weiter, auch wenn ich im letzten Jahr mal kurz damit drohen mußte, mein noch aus Sonntag-Zeiten stammendes, fünfzehn Jahre altes Abonnement zu kündigen, falls nicht umgehend das Honorar eines halben Jahres auf meinem Konto ist. Als solidarischer Mensch möchte man ja gerne gebeten werden, etwas fürs Überleben zu tun, anstatt dauernd Mahnungen schreiben zu müssen, die nicht beantwortet werden. In der Rede, die der Verleger Willi Brüggen hielt, klang das dann alles etwas sehr versöhnlich, aber es sollte wohl auch eine Feiertagsrede sein. Schließlich geriet sie ihm zu sehr zu einem langatmigen Rechenschaftsbericht, bis die ehemalige Redakteurin Leonore Brandt aufstand und ihn bat, sich etwas kürzer zu fassen. Leonore Brandt habe ich zu verdanken, dass ich irgendwann in der Wendezeit anfing, für den Sonntag zu schreiben, obwohl ich doch eigentlich Lyrikerin war. Heute muss ich mich dafür rechtfertigen, warum ich als Journalistin Romane schreibe, währenddessen Leonore Brandt längst woanders arbeitet.
Es war alles in allem ein Abend der Resümees mit ungewisser Zukunftsperspektive. Wahrscheinlich wurde deswegen mehr geredet als gefeiert. Den meisten Zuspruch hatte der Freitag während des Kosovo-Krieges. »Wir kamen uns schon vor wie Kriegsgewinnler«, sagte Detlev Lücke während der Podiumsdiskussion mit den üblichen Verdächtigen. Er kann sich trösten, denn n-tv geht es ähnlich, den Sender schaltet man auch nur ein, wenn Katastrophen im Gange sind. Nur hat der wahrscheinlich bessere Verbindungen zur Börse. Inzwischen wurde die Luft knapp im Saal. Im Foyer trafen sich die Abtrünnigen. Manche hatten sich jahrelang nicht gesehen, andere erkannten sich gar nicht wieder, denn im Gegensatz zu den Freitag-Redakteuren, die sich offensichtlich zehn Jahre lang gut konserviert haben, ob mit Hilfe von Einkochen, Vakuumgefriertrocknung oder Beharrungsvermögen mag ihr Geheimnis sein, ist an anderen die Zeit nicht so spurlos vorübergegangen. Die Feier geriet im Foyer dann auch eher zum Klassentreffen, während sie im Saal harter Arbeit ähnelte. Nachdem wir zwanzig Minuten nach einem Glas Wein angestanden hatten und die Schlange schon so lang war wie die nach Bananen vor 89, sagte eine Frau: »Mit der Effektivität haben es die Linken alle nicht so«. Wenn der Freitag zwanzig wird, sollte man vielleicht auf Podiumsdiskussionen verzichten und lieber tanzen.
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