Vor dem Spiel hätte niemand auch nur einen Pfifferling für den Viertligisten 1.FC Magdeburg verwettet. Es war ja schon ein Wunder, dass die Mannschaft überhaupt so weit gekommen war. Schließlich war der Verein vor dem Pokalspiel gegen den 1. FC Köln praktisch pleite und am Ende seiner wechselvollen Geschichte angelangt. Nur der ewig optimistische und in der Öffentlichkeit immer strahlende Oberbürgermeister Willi Polte verkündete, nach dem Ausgang des Spiels gegen den FC Bayern München befragt, in der Magdeburger Volksstimme: »In der regulären Spielzeit gibt es ein Unentschieden. In der Verlängerung werden wir vielleicht das Nachsehen haben. Aber kleine Wunder passieren immer wieder.« Dem wollte sich dann doch niemand anschlie
and anschließen. In Magdeburg wartet man seit zehn Jahren auf Wunder, innerhalb und außerhalb des baufälligen Ernst-Grube-Stadions, das zum ersten Mal seit Jahren, wahrscheinlich Jahrzehnten, wieder ausverkauft war. Denn es ging um mehr als um ein Spiel.Da Fußball inzwischen als die einzig praktizierte Weltanschauung gilt, war dieses Aufeinandertreffen zweier Mannschaften in mehrfacher Hinsicht ein Klassenkampf: einmal, weil die vierte gegen die erste Klasse antrat und zum zweiten war es die nächste Runde des Kampfes arrogante Wessis gegen tumbe Ossis. Der Konflikt der beiden Mannschaften ist alt. Genau 26 Jahre. Wahrscheinlich hatte Bayern München ihn längst vergessen. Im Jahr 1974 lernten die Magdeburger, was sie nach der Wende bis zum Überdruss erfahren mussten - dass man sie im Westen nicht für voll nahm. Die Bayern waren damals unmögliche Gäste. Im Grunde genommen könnten sie sich heute rühmen, dass sie mit einer kleinen Geste den ganzen Sicherheitsapparat aus Polizei, Staatssicherheit, Armee und diversen anderen Massenorganisationen überflüssig machten.Drei Wochen vor dem Spiel hatte der Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei den Einsatzbefehl Nr. 01/74 »Zur Gewährleistung einer hohen öffentlichen Ordnung und Sicherheit anlässlich des 57. Jahrestages der Großen sozialistischen Oktoberrevolution und in Vorbereitung und Durchführung des Fußballspiels Europapokal 1.FC Magdeburg gegen Bayern München« ausgegeben. Es herrschte höchste Alarmstufe, als käme eine feindliche Armee zu Besuch. Beispielsweise gab es zwischen dem 5. und 7. November 1974 eine Beschränkung von Transporten mit Sprengmitteln, Giften und radioaktiven Stoffen im Stadtgebiet Magdeburgs, und am 6. November wurde den Vollzugseinrichtungen verboten, Gefangene durch die Stadt zu transportieren. Drei Wochen lang schickte die Polizei zusammen mit der Staatssicherheit Spitzel durch den ganzen Bezirk Magdeburg, um Stimmungen und Meinungen einzufangen, die sich heute noch im Archiv der Stadt Magdeburg befinden. Man ging sogar soweit, eine Woche vor dem Spiel in der Zeit von 5.15 - 7.00 Uhr morgens zehn Kriminaloffiziere der Bereitschaftspolizei in die Straßenbahnen 1, 2, 10, 12 und 22 zu beordern, um herauszubekommen, was die Magdeburger über das bevorstehende Spiel dachten. Zwar konnten sie sich ein Bild über die Versorgungsprobleme in der Stadt machen, die reichlich auf der Fahrt zum Betrieb diskutiert wurden, in puncto Bayern München aber war die Ausbeute gering. Dann aber reisten die Bayern an und weigerten sich, im Interhotel »International« zu essen, nachdem die Leitung des Hotels es abgelehnt hatte, Köchen aus München in der Interhotelküche das Kochen mit eigenen Töpfen zu erlauben. Auch eigene Kellner hatten die Bayern mitbringen wollen. Die Mannschaft nahm ihr Essen dann im Bus vor dem Hotel ein, aus Angst, vergiftet zu werden. Bei allem Respekt und der immer anwesenden Sehnsucht nach dem Westen, war das den Magdeburgern dann doch zuviel. Die Nachricht sprach sich wie ein Lauffeuer in der Stadt herum und wurde am nächsten Morgen über die Betriebsfunklautsprecher der großen Schwermaschinenbaubetriebe noch in den letzten Winkel getragen. Seitdem war Bayern München für die Magdeburger gestorben. Da spielte es dann auch keine Rolle mehr, wer eine Runde weiterkam.Nun endlich, nach 26 Jahren, kam es zur Revanche. Das Interhotel gibt es inzwischen nicht mehr. Es ist nach der Wende abgerissen worden, um einem viel hässlicheren Hotelneubau Platz zu machen. Bayern München zog es vor, sich in ein Hotel am Rande der Stadt einzumieten. Auch die Schichtstraßenbahnen sind längst verschwunden. Der Aufwand zur Absicherung des Stadions mag allerdings ein ähnlich hoher wie 1974 gewesen sein. Trotzdem zertrümmerten Hooligans vor dem Spiel zwei Scheiben des Bayernbusses.Es gibt die von meinem Vater in vierzig mühsamen Fußballbeobachterjahren herausgearbeitete These, dass kleine Mannschaften gegen große überhaupt nur eine Chance haben, wenn sie die ersten 45 Minuten ohne Gegentreffer überstehen. Dann werden die großen mürbe. Man kann nicht sagen, dass das, was auf dem Rasen zu sehen war, besonders schön gewesen wäre. Aber Magdeburg überstand das Spiel Unentschieden bis zum Ende der Verlängerung, und der Torwart Dreszer hielt die Bälle zweier hochbezahlter Spieler, die wahrscheinlich für ein Spiel mehr bekommen als er im ganzen Jahr.Beiseite gesprochen: Dass ein Schwarzer, Ofodile, für Magdeburg das Führungstor schoss, ist wahrscheinlich ein größerer Erfolg gegen den notorischen Rassismus in der Stadt als jegliche Lichterkettenaktion oder gutgemeinte Reden des Oberbürgermeisters.