Traum, Binnenschiffer zu sein

Im Fluss Nach Oder und Memel hat Uwe Rada nun der Elbe ein Buch gewidmet. Liest man es dieser Tage, sickert die Flut unweigerlich in die Lektüre ein
Ausgabe 24/2013

Als ich das Buch Die Elbe von Uwe Rada zu lesen begann, führte der Fluss noch Niedrigwasser. Ich fuhr damals auf der ICE-Strecke Berlin–Hannover kurz hinter Tangermünde über die Elbbrücke und notierte: „Dieser Moment besitzt eine Magie für mich, besonders in den Wochen nach dem Ende eines langen Winters, wenn der Fluss über die Ufer tritt. Jetzt zieht sich das Frühjahrshochwasser langsam zurück. Es hat in diesem Jahr keinen Schaden angerichtet.“ Jetzt aber, da ich meine Rezension an die Redaktion schicke, ist die Elbe gerade dabei, an den Ufern jener Stadt, in der ich aufgewachsen bin, sämtliche Pegelstandrekorde zu brechen, und zum ersten Mal droht der Ort meiner Kindheit in den Fluten unterzugehen. Über Facebook verfolge ich die Katastrophenmeldungen. Die Namen der Straßen, die vom Wasser überflutet werden, sind die meiner Kindheit.

Von allen Flüssen ist mir die Elbe der liebste, da bin ich Lokalpatriotin, obwohl ich seit dreißig Jahren in Berlin lebe. Seit ich schreiben kann, beschäftigt mich die Frage, warum der Fluss männlich, die Elbe aber, anders als der Rhein, weiblich ist. Zugegeben, die Wolga ist beeindruckender, der Nil aufregender und der Rio de la Plata geheimnisvoller, aber ich habe meine Kindheit auf einer Elbinsel, dem Werder, verbracht, da wechselt man die Zuneigung zu Gewässern nicht so einfach.

Uwe Rada hat nun dieses Buch geschrieben, das den schlichten Titel Die Elbe trägt, und er erzählt ihre Geschichte auf eine fließende, von vielem Wissen getragene Art, die man mit der Bewegung der Elbe bei Normalpegel vergleichen könnte.

Böhmen liegt am Meer

Uwe Rada kann man mit Fug und Recht als den deutschen Flussautor bezeichnen. Angefangen hat er 2005 mit einem Buch über die Oder, 2010 machte er mit der Memel weiter, außerdem koordiniert er für die Bundeszentrale für politische Bildung das Onlinedossier Geschichte im Fluss. Da lag die Elbe nahe. Näher als der Rhein jedenfalls. Konrad Adenauer zog die Vorhänge zu, wenn er mit dem Zug die Elbe, von Bonn kommend, überquerte, um in Westberlin nach dem Rechten zu sehen. Auf der Ostseite begann für ihn die asiatische Steppe. Damals war es noch die Strecke über Magdeburg, mehrmals am Tag überquerten die Interzonenzüge dort den Fluss, und nicht selten hat jemand versucht, als blinder Passagier mitzufahren, manchmal auch in einem der Binnenschiffe. Mit einer Binnenschiffergeschichte beginnt auch Radas Buch. Es ist eine persönliche, die eines böhmischen Familienzweiges der Radas, die als Binnenschiffer Ende der vierziger Jahre blinde Passagiere im Hohlraum ihres Schiffes durch die sowjetische Zone nach Hamburg schleusten, wo es bis heute einen Moldauhafen gibt, der tschechisches Territorium ist. Böhmen, so Uwe Rada, liegt also doch am Meer. Ahoi!

1094 Kilometer lang ist die Elbe, die in Tschechien ihren Ursprung hat, 94 Kilometer bildeten bis 1989 die deutsch-deutsche Grenze, vier Kilometer haben meine Kindheit geprägt. Ich beneidete die Binnenschifferkinder, die bis zur Einschulung mit ihren Eltern auf dem Kahn lebten und nur im Winter bei Eisgang im Winterhafen ankerten. Inzwischen hat die Binnenschifffahrt auf der Elbe ihre Bedeutung verloren.

Strudel der Geschichte

Radas Anliegen ist es, die Flüsse als Subjekt von Geschichte zu beschreiben. Dabei ist es oft weniger der Fluss als realer Ort, der ihn interessiert, denn als Idee, mäandernd durch die Zeit und bisweilen in einem künstlichen Bett gefangen. Für Uwe Rada ist „die Elbe ein Puzzle, das sich bis heute nicht zu einem großen Ganzen zusammenfügen möchte“. Jeder Anrainer hat seine eigene Elbe, für die Tschechen ist sie ein deutscher Fluss, im Gegensatz zur Moldau, in Hamburg gehört sie zum Meer, in Dresden scheint sie nur Dresden zu gehören. Ähnlich geht er auch in seinem Buch vor. Er folgt ihr nicht wie ein Binnenschiffer, der seine Fracht aus Böhmen die Elbe flussabwärts bis zum Hamburger Hafen bringt, sondern er arbeitet thematisch, springt zwischen Ober-, Mittel- und Unterelbe hin und her, wechselt Wasserstände und Tauchtiefen. Er erzählt vielerlei Geschichten über den Fluss, die manchmal dicht wie Strudel sind, aus denen schwer wieder herauszufinden ist. Die Anzahl der Quellen ist beeindruckend, Rada benutzt sie virtuos. Es geht um Natur- und Kulturlandschaften, Grenzen und Allianzen, Sachsen und Preußen, das Heilige Römische Reich deutscher Nation, die zwei Geisteshaltungen der Elbe, um katholischen Barock und protestantischen Backstein, um die Geschichte Theresienstadts und das Magdeburger Recht, die Hanse und die jesuitische Rekatholisierung, Dresden, Ústí nad Labem und Hamburg, das Elbsandsteingebirge und das Wendland, die Teilung Deutschlands, die Elbauenlandschaft an der mittleren Elbe und die Flussarme Hamburgs. Ein fließender Raum, ein Raum im Fluss und auch im Überfluss, siehe Hochwasser.

Die Stadt Magdeburg mit ihrer Elbinsel mitten in der Stadt spielt im Lauf des Flusses, zwischen den kulturhistorischen Giganten Dresden und Hamburg gelegen, keine besondere Rolle, auch in Uwe Radas Buch kommt die Stadt fast nur in der Geschichte vor, als Metropole des Heiligen Römischen Reiches unter Otto dem Großen und als Ort der zweimaligen Zerstörung, 1631 und 1945. Dabei hätte sich Magdeburg auch im Kapitel „Die Elbe als literarischer Erinnerungsort“ angeboten.

In Dresden-Loschwitz hat Friedrich Schiller, mit Blick auf den Strom, die Ode an die Freude geschrieben, heute die Hymne Europas. Aber auch der Magdeburger Werder ist ein literarischer Ort: Vor 250 Jahren ist Klopstock durch die Gärten meiner Kindheitsinsel gewandelt, Teile des Messias sollen dort entstanden sein. Eine der ersten bedeutenden Dichterinnen, Anna Louise Karsch, die preußische Sappho, war hier zu Gast.

„Glückliche Insel“ hat Klopstock den Werder genannt. Im Fernsehen hat der Oberbürgermeister der Stadt gesagt, dass beten soll, wer beten kann, auf dass sie nicht endet wie Vineta oder Atlantis.

Die Elbe. Europas Geschichte im Fluss Uwe Rada Siedler 2013, 320 S., 19,99 €

Die Schriftstellerin Annett Gröschner ist gebürtige Magdeburgerin und wohnte dort auf der Elbinsel Werder

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