"Der Verzehr mitgebrachter Speisen und Getränke ist nicht gestattet". Das Schild fiel mir als erstes ins Auge, wohl auch, weil ich im Gedränge gar keine Chance hatte, es nicht zu sehen, ich trieb geradewegs auf das Tor zum Weihnachtsmarkt zu. Auf dem Weg war ich an zwei Pakistani vorbeigekommen, die aus Plastikeimern Weihnachtsmützen mit flackernden roten Lämpchen verkauften, ein frierender Eisbär blies Luftballons auf und zwei Indios spielten Panflöte in der Verkleidung nordamerikanischer Sioux. Über den Platz drangen die Schreie der Kunden eines Twisters, der gerade den Schnellschleudergang eingelegt hatte. Mir fiel ein, dass im November auf irgendeiner Website vor Anschlägen auf deutsche Weihnachtsmärkte gewarnt worden war. Ich bin keine Freundin von Rummeln, die einen in Stimmung bringen sollen. Als die Kinder klein waren, wurden sie immer mit den Vätern auf den Weihnachtsmarkt geschickt. Ich wollte aber aus beruflichen Gründen wissen, ob die Stimmung im Berliner Volk angesichts der Agenda 2010 so mies ist, dass die Leute sich den Besuch des Weihnachtsmarktes sparen. Schon am Eingang konnte ich meine These falsifizieren. Ich kam weder vorwärts noch zurück vor Vergnügungssüchtigen. Gleich links vom Eingang lockte ein Sparangebot: drei Kartoffelpuffer zum Preis von einem plus Kaffee. An den Getränkeständen standen rotgesichtige Gruppen Erwachsener, die aus gelben Keramikstiefeln mit der Aufschrift "Berliner Weihnachtsmarkt" Glühwein tranken.
Als ich versuchte, hinter einer Bude scharf abzubiegen, um dem Getümmel auf dem Hauptweg zu entfliehen, entdeckte ich im Schatten eines Grünkohl-mit-Pinkel-Standes den kleinen Jungen. Er saß stocksteif in seinem Wagen, vor sich auf einer kleinen Ablage eine volle Milchflasche. Er starrte mit großen Augen, in denen sich die Lichter des Weihnachtsbaums spiegelten, ins Leere. Ein dünner Speichelfaden lief ihm aus dem Mund. Man hätte den Jungen aus der Karre stehlen können, die Eltern hätten es nicht gemerkt. Sie waren gebannt von etwas, das der Mann mit ein bisschen Glück gleich besitzen würde, denn er steuerte mit äußerster Konzentration einen Greifer, der sich hinter einer Fensterscheibe befand, langsam auf eine Armbanduhr zu, deren Protzigkeit das Gold und Silber auf Zifferblatt und Armband schon von weitem unecht wirken ließ. Die Mutter des Kindes verfolgte das Geschehen mit offenem Mund. Ich wartete auf den Zeitpunkt, wo sie den Griff des Kinderwagens in ihrem Rücken loslassen würde, um die Hände vor Aufregung vor den Mund zu halten.
Ich ging an einen der Stehtische des nächsten Glühweinstandes, um dort in meinem Notizbuch den Blick des kleinen Jungen festzuhalten, aber ich fand es nicht in meiner Tasche. Ich wühlte hektisch alle zehn Fächer durch, ohne die Erleichterung, plötzlich den kühlen Kunstlederumschlag zu spüren. Neben mir knallte ein Handy auf den feuchten Boden, drei Pubertierende stürzten sich auf den Akku, während die Handyschale von einem vorbeikommenden Stiefel zertreten wurde. Ich fand nur einen Stift und überlegte, ob ich mir den kleinen einsamen Jungen auf die Hand schreiben sollte, um ihn nicht zu vergessen.
Wo aber hatte ich mein Notizbuch gelassen? Ich fuhr nach Hause und suchte die ganze Wohnung ab. Nach Taschen und Schreibtisch kamen die Nischen und Ecken dran. Aber ich fand nur Dinge, nach denen ich längst nicht mehr gesucht hatte. Es wollte mir nicht einfallen, wo ich es zuletzt gesehen hatte. Ich habe seit meinem zwölften Lebensjahr immer so ein Büchlein bei mir und noch nie hatte ich eins verloren. War das jetzt das erste Zeichen von Altersdemenz? Unsereins kann sich ja nach den Beschlüssen der Agenda 2010 schon mal überlegen, mit Hilfe welcher Mittel man rechtzeitig aus dem Leben scheidet, um nicht in irgendwelchen Altenheimen der Künstlersozialkasse den Rest der Zeit zu verdämmern. Drei Tage später bin ich zu der Einsicht gekommen, dass es besser sei, wenn das Notizbuch nie wieder auftauchen würde. Was ist peinlicher, als Intimitäten mit süffisantem Lächeln oder mit der Bemerkung: Keine Angst, ich hab´s nicht gelesen, zurückzubekommen? Aber hatte ich nicht so hastig geschrieben, dass selbst ich es nicht mehr hätte lesen können? Was hatte ich überhaupt aufgeschrieben? Einen sexuellen Traum, in dem eine bekannte Person vorkam, Beschimpfungen oder Verwünschungen von Leuten, die es gefunden haben könnten? Ich wünschte, es sei in einer Pfütze gelandet und unlesbar.
Am nächsten Morgen habe ich ein neues Notizbuch angefangen, um den Traum der Nacht festzuhalten. Ich war aufs Arbeitsamt bestellt, wo mit Hartz IV Wartezone und Vermittlung zusammengelegt waren. Hinter Schildern mit der Aufschrift "Diskretionsabstand!" musste man vor aller Ohren sein Anliegen vorbringen. Weil ich mich darüber beschwert hatte, bekam ich einen Termin beim Psychologen.
Am selben Abend kam eine E-Mail. Man habe ein Tagebuch im Gras gefunden, von dem man annehme, dass es meins sei. Ja wieso eigentlich meins?
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