Vierteljahrhundert

Berliner Abende Vor ein paar Wochen rief ich Wolf an und fragte ihn, ob er wisse, dass wir in diesem Juli 25 Jahre in Berlin seien. Wolf lachte sein Lachen, das er ...

Vor ein paar Wochen rief ich Wolf an und fragte ihn, ob er wisse, dass wir in diesem Juli 25 Jahre in Berlin seien. Wolf lachte sein Lachen, das er damals auch schon hatte, so eine Mischung aus Gemecker und dem Wissen, dass alles immer noch schlimmer kommen kann, aber mit Ironie selbst der Tod besiegbar ist.

Damals waren wir ein Paar und wir hatten jeder eine Schreibmaschine, was hieß, wir hielten uns für Schriftsteller. Die schlechten Erfahrungen, die wir in der Provinz gemacht hatten, waren der Grund, mitsamt der Schreibmaschinen in den Prenzlauer Berg zu wechseln, den wir für den einzigen Hort der Freiheit in jenem Land hielten. Man brauchte damals nur einen Dietrich, diesen inzwischen fast ausgestorbenen Gegenstand, um Schlösser zu öffnen, die in verlassene Wohnungen führten, die sich besetzen ließen. Auf einem Hinterhof der Schönhauser Allee wurden wir fündig. Die Wohnung war feucht, hatte ein Berliner Zimmer und folglich nie Sonne, kein funktionierendes Klo und, wie sich drei Monate später herausstellte, war auch der Ofen defekt. Unsere Beziehung hat das nicht lange ausgehalten. Vereint sind wir trotzdem geblieben, in einer OPK der Staatsicherheit, in dem der Verlauf unserer Beziehung bis zu ihrem Ende dokumentiert wird. Die Stasiunterlagenbehörde hat uns dann 20 Jahre später wieder ordentlich getrennt, indem sie die Passagen über den jeweils anderen schwärzte. Das war ganz nach unserem Geschmack.

Wir hatten uns nichts vorzuwerfen. Also beschlossen wir, unsere Prenzlauer-Berg-Beharrlichkeit zu feiern und alle Leute einzuladen, die wir damals schon kannten und heute immer noch kennen wollen. Das waren wider Erwarten mehr als ein Dutzend. Und so trat dann an diesem Sonntagnachmittag einer nach dem anderen durch das Tor.

Wolf wohnt in dem einzigen noch unrenovierten Haus der Kollwitzstraße, unter einem Notdach, das dem Umstand geschuldet ist, dass im 2. Weltkrieg eine Bombe die beiden oberen Etagen wegrasiert hat. Auf dem Hof sind Grünpflanzen abgestellt, die vor 30 Jahren aus der Mode kamen, und auch Einschüsse lassen sich an der schadhaften Fassade noch erkennen. Als wir alle zusammen um den Tisch im Hof saßen und Buletten und Kartoffelsalat aßen, kamen wir uns vor wie in einer Zeitmaschine, nur das Bleierne dieser Zeit vor einem Vierteljahrhundert war in der Vergangenheit geblieben. Es war ein Innehalten für einen kurzen Sonntagnachmittagsmoment. Wir bemerkten bald, dass alle auf irgendeine Weise miteinander verbandelt waren, auch wenn sich einige noch nie vorher gesehen hatten. Irgendwann gegen Abend traten wir aus dem Erinnerungskäfig hinaus und waren wieder ganz in der Gegenwart. Im Flur grüßte uns das Graffiti "Eat the rich", wozu wir draußen auf der Kollwitzstraße reichlich Gelegenheit gehabt hätten, aber wir waren schon satt vom Kartoffelsalat.

Einen Tag später war ich zu einer Party von Neuankömmlingen eingeladen. Auch sie hatten alle ihre Freunde und Bekannten eingeladen. In den Räumen war es so voll, dass man getrost hätte betrunken umfallen können. Die Neuankömmlinge waren wie wir vor einem Vierteljahrhundert, nur gab es drei Unterschiede: Sie waren mit Laptops gekommen, die Räume waren nicht mehr besetzt, sondern teuer gemietet und sie hatten alle wichtigen Feuilletonredakteure dieses Landes zum Einstand geladen. Wolf würde jetzt vermutlich sagen, dass sie zum Erfolg verdammt sind.

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