Wir sind viele!

Alltag Wenn wir alt sind, werden wir Häuser besetzen, Volxküchen betreiben und Hungermärsche durch Institutionen antreten

"Ihre bislang erreichte Rentenanwartschaft entspräche nach heutigem Stand einer monatlichen Rente von 258,94 Euro", hat mir die Deutsche Rentenversicherung (Bund) Ende 2007 mitgeteilt. Nun bin ich weit davon entfernt, einer Statistik zu glauben, die mir eine Lebenserwartung von über 80 Jahren verspricht, schließlich bewege ich mich auf dem Fahrrad durch die Stadt und bin damit noch gefährdeter, als vorzeitig einem Terroranschlag oder Flugzeugabsturz zum Opfer zu fallen. Außerdem weiß keiner meiner Generation, ob die oberirdischen Kernwaffenversuche, die während unseres Gezeugtwerdens die Erde verseuchten, nicht doch noch Auswirkungen auf unsere Zellbildung haben werden. Das Gesundheitswesen belasten wir ja ohnehin. Was das betrifft, lässt sich inzwischen ein alter Spruch aus ostdeutschen Zeiten wieder aus der Mottenkiste holen: Wir haben das beste Gesundheitswesen der Welt, nur krank darf man nicht werden.

Da der Anteil der Älteren in den nächsten Jahrzehnten größer wird, hat der Gesetzgeber die Rente mit 67 eingeführt. 2031 erreiche ich die Regelaltersgrenze. Vor wenigen Jahren lag sie noch bei 2029. Ich habe die meiste Zeit meines bisherigen Berufslebens mehr schlecht als recht als Freiberuflerin verbracht. Allerdings kann es sein, dass das ganz ohne Belang sein wird, wieviel man eingezahlt hat, weil nämlich die Rentenfonds bis dahin sowieso verzockt sind, einschließlich aller Riester-, Rürup- oder Wer-weiß-wie-ich-heißen-werde-Renten, das Kapital ist ja, wie wir wissen, kühn.

Es ließen sich andere Umverteilungssysteme denken und sogar rechnen, angefangen bei einer Grundsicherung, die den Namen verdient, und einer Rentenkasse, in die alle einzahlen. Allerdings bedürfte es dafür einer Mehrheit links von der Mitte, die auch regiert. Die schleichende Entsolidarisierung in der Gesellschaft lässt allerdings nichts Gutes hoffen. Oberschichtensprösslinge, die ihre Schulzeit schon nur unter Ihresgleichen an Privatschulen, -universitäten und in sündhaft teuren Internaten verbracht haben werden und später sicher auch die "Eliten" bilden, werden angesichts von Rohstoffknappheit und Börsencrashs schnell sein, wenn es darum geht, den Alten ihre angeblichen Privilegien wie künstliche Hüftgelenke und Bypässe wegzunehmen. Gerade letzte Woche hat sich ja ein Jungschnösel mit einem Vorschlag zur "Stärkung der Solidargemeinschaft" ein Ticket für den Aufstieg in der CDU erworben, als er ein doppeltes Wahl- und Stimmrecht bei Bundestags- und Landtagswahlen für alle Leistungsträger in Deutschland forderte. Das klang zwar in einigen Ohren neu, ist aber nichts weiter als eine Art Wiedereinführung des preußischen Dreiklassenwahlrechts. Da durften Empfänger öffentlicher Armenunterstützung gar nicht wählen, Junge unter 25 waren allerdings ebenfalls ausgeschlossen.

Es ist aber zu befürchten, dass es, wenn wir alt sind, nicht mehr nur um künstliche Hüftgelenke, sondern gleich um ein "sozialverträgliches Sterben" gehen wird. Vergessen wir nicht, der Beginn der Nazidiktatur wird dann hundert Jahre, also lange her sein. Es wird genug Politiker geben, die sich mit sogenannten unbequemen Wahrheiten einen Platz in der Öffentlichkeit sichern werden, die Abschaffung demokratischer Rechte für unnütze Esser wird noch das Geringste sein. Dann wird es ein Solidarakt der Alten sein, den Freitod zu wählen, statt der Gesellschaft auf der Tasche zu liegen. Als Dank wird die Beerdigung aus den öffentlichen Kassen bezahlt werden.

Als gierig gelten ja Rentner schon heute, wenn sie 3,50 mehr im Monat bekommen.

Alte sind allerdings zu groß, um sie unbemerkt in Kühltruhen unterbringen zu können, wenn man sie loswerden will. Außerdem: "Wir sind viele", könnte man mit den blumigen Stimmen von Tocotronic singen, "jeder Einzelne von uns". Und wir werden auch im Alter, trotz aller Umweltgifte, noch viele sein.

Mein Jahrgang ist der geburtenstärkste der letzten fünfzig Jahre, die Ostdeutschen unter uns haben erlebt, dass ganze Reiche über Nacht implodieren können und auch die Westdeutschen bekamen mit Anfang 30 per Regierungserklärung mitgeteilt, dass die Sozialsysteme in der Zukunft nicht mehr das halten würden, was sie ihren Eltern noch versprachen. Abgesehen davon, dass man immer noch versuchen kann, Bundestagsabgeordneter zu werden und so lange durchzuhalten, bis man eine ordentliche Politrente bekommt, heißt es für die anderen eben wieder: Zusammenschließen, Rudel bilden.

Wir werden das machen, was wir in den Achtzigern eingeübt haben: Wir werden an den Börsen verspekulierte Häuser und Grundstücke besetzen, Volxküchen betreiben und Hungermärsche durch Institutionen antreten. Die Aktionen werden vielfältig und phantasievoll sein, auch wenn zu befürchten ist, dass Plena unter Altersstarrsinnigen tagelang dauern werden. Aber wir haben ja Zeit.

Wir werden wie seit Jahrzehnten schon, flexibel sein und bei Räumung unsere Sofas und Rollstühle eben ins nächste Haus schieben oder ein paar Container mit Hilfe von Computerhacking aus China über Hamburg an unseren Standort umleiten, die darin befindlichen Waren tauschen oder verbrauchen und die Container zu einem Dorf aufstapeln, wahlweise mitten auf Kreuzungen oder auf Schulhöfen, wo wir in den Pausen Lesehilfen für leseschwache Schüler anbieten, denn was wir im Überfluss haben werden, das werden Bücher sein. Und die kann man notfalls im Kerzenschein lesen. Mit den Energieressourcen wird es ja auch nicht mehr zum Besten stehen. Allerdings könnten wir uns fithalten, indem wir mit Hilfe von Hometrainern auf ökologisch sinnvolle Weise Strom erzeugen und damit unsere Laptops betreiben, mit denen wir mit Alten in der ganzen Welt kommunizieren und uns zu Widerstandsnetzwerken zusammenschließen. Ökologie hat uns ja schon seit unserer Jugend interessiert. Da wir politisch interessiert sind, werden wir die Diskussionen um unsere Abschaffung verfolgen und ab und an einen der vorlauten Jungschnösel kidnappen und zum Hüftgelenkeputzen und Windelnwechseln einsetzen. Zur Not ließe er sich auch braten und essen. Lebenslanges Gefängnis kann uns dann nicht mehr schrecken. Auch dort werden wir wahrscheinlich viele sein.

Einmal, in Buenos Aires, habe ich eine Demonstration alter Menschen beobachtet. Sie trugen Mäntel aus gutem Stoff, die ihre besten Zeiten hinter sich hatten. Der Aufstand begann als Spaziergang durch die Fußgängerzone. Auf Höhe der ersten Bank holten sie blitzschnell Spraydosen, Hämmer und Trillerpfeifen aus Hand- und Manteltaschen. Mit einer Energie, die ich den älteren Herrschaften nicht zugetraut hätte, schlugen sie mit den Hämmern auf den die Schaufenster der Bank schützenden Metallzaun oder sprayten Verfluchungen gegen den Kapitalismus, dessen Repräsentanten sie anscheinend einst gewesen waren, an die Wände. Sie forderten ihre Spareinlagen zurück, die der Staat ihnen genommen hatte. Ihre Proteste gingen ins Leere, aber es muss ja nicht heißen, dass das immer so sein wird.

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