Die alte Fabrikhalle ist spärlich beleuchtet. Im dämmrigen Licht schieben sich Paare in enger Umarmung über das Parkett. Die Tänzer sind elegant gekleidet, die Gesichter wirken ernst, die Bewegungen fließend. Die Musik ist schwermütig und doch seltsam leichtfüßig. An jedem Montag wird in dem alten Industriegebäude in Leipzig Plagwitz Tango Argentino getanzt. 50 bis 60 Leute kommen zur Milonga, zum Tanzabend.
Der argentinische Tango ist populär, auf viele Menschen übt er eine tiefe Faszination aus. Entstanden ist er vor mehr als 100 Jahren in den Hauptstädten von Argentinien und Uruguay. Sein Ursprung liegt in den Elendsvierteln der Großstädte Buenos Aires und Montevideo, in denen Massen von Einwanderern lebten. Ihre Entwurzelung, die Enttäuschung über nicht erfüllte Hoffnungen und Träume spiegelt sich in den Texten und in der Melancholie der Musik.
Eine große, nicht mehr ganz junge Frau zieht die Blicke auf sich. Sie ist sehr schön und ganz in schwarz: der kurze Rock, die Nahtstrümpfe, das langgelockte Haar. Dazu bilden knallrote Tanzschuhe den Kontrast. Sie setzt die Schritte ruhig, tanzt in den Boden hinein. Ihre Wange schmiegt sich an die Wange des Tänzers, auf den Gesichtern spiegelt sich die Freude an der gemeinsamen Bewegung.
Der argentinische Dichter Jorge Luis Borges spricht aus, was die Historiker des Tangos wissen: dass der Ursprung des Tanzes in den Bordellen liegt. "Es fehlt nicht an zusätzlichen Bestätigungen: die lüsternen Tanzfiguren, die offensichtliche Anzüglichkeit gewisser Titel" - El choclo (der Maiskolben), El fierrazo (das Schüreisen) - "der Umstand, den ich als Kind in Palermo und Jahre später in La Chacarita und in Boedo beobachten konnte: An den Straßenecken tanzten Männer zusammen, weil die Frauen aus dem Volk nicht an einem Schlampenschwof teilnehmen wollten."
Der Tango hat sich verändert seit seinem Siegeszug vom Rotlichtmilieu in alle Teile der Gesellschaft. Seine ursprünglich reiche Choreographie, die Vielfalt an Schritten und Ornamenten, wurde aus Rücksicht auf die moralische Empfindsamkeit der gehobenen sozialen Schichten eingeschränkt. Je mehr der Tango sich zum Gesellschaftstanz entwickelte, desto weniger "cortes" wurden getanzt, desto weniger "quebradas". Bei den "cortes" handelt es sich um den plötzlichen Abbruch einer Schrittserie, bei den "quebradas" um Verzierungen, die meist von der Frau getanzt werden. Borges kommentiert die Veränderung pointiert: "Früher war der Tango eine orgiastische Teufelei; heute ist er eine Art zu schreiten."
Obwohl er gesellschaftsfähig wurde, hat der Tango seinen erotischen Reiz bewahrt. Ralf Sartori, selbst Tangolehrer, forscht in seinem Buch Tango der besonderen Faszination dieses Tanzes nach. "Nur in einer Sphäre deutlicher Polarität kann sich der Eros entfalten. Nur zwischen den Gegensätzen ist Raum für die Sehnsucht. Und der Tango verbindet die äußersten Gegensätze zu einem harmonischen Ganzen, welches gelegentlich tiefere Erlebnisse der Einheit gewährt."
Die Quelle des vertieften Gefühls liegt in der besonderen Situation. Zwei Menschen begegnen sich auf ganz elementare, körperliche Weise. Es entsteht eine subtile Kommunikation, eine Art Dialog. "Und es kann sein, dass du mit einer fremden Person tanzt und es dir erscheint, als ob du sie schon lange kennst", sagt Héctor Corona, Tangolehrer in Buenos Aires und Leipzig. "Dann können drei Minuten sein wie ein ganzes Leben."
Ein großer schlanker Mann im besten Alter holt eine Frau vom Nebentisch zum Tanzen. Er legt den Arm um sie, sanft und bestimmt führt er sie in die Bewegung hinein, die hohen Absätze zeichnen auf den Boden eine unsichtbare Acht.
In den Pausen zwischen den Tangoliedern lachen und scherzen sie. Sie kennen einander, haben schon viele Male getanzt. Die ganz besonderen Momente aber erleben Partner, die einander fremd sind. Schon im ersten Tanz offenbart sich, ob man empfänglich ist für die Impulse des anderen, wie gut die Körper in der gemeinsamen Bewegung harmonieren. Bei manchen Partnern sträubt sich der Körper gegen die allzu große Nähe. Und manchmal erleben die Tänzer eine vollkommene Harmonie, in der sie mit traumwandlerischer Sicherheit auf die Bewegungen des anderen eingehen, sie vorausahnen und beantworten.
Die meisten weiblichen Tangotänzer kennen dieses Gefühl sehr gut - sich im Tanz zu verlieren. Ein Gefühl, das man mit nach Hause nimmt und das dem Verliebtsein manchmal zum Verwechseln ähnelt. Das Phänomen ist frauentypisch, Sartori nennt es das "Zerfließen im Kontakt": Die Frau kann beim Tango die Augen schließen und sich fallen lassen, sie kann alle Kontrolle aufgeben. Der Mann dagegen muss in jeder Sekunde über den nächsten Schritt entscheiden. Er führt und ist gezwungen, die Form zu wahren.
Die junge Frau nippt an ihrem Sekt und zündet eine Zigarette an. In weiten Hosen und Pullover wirkt sie sehr schlicht für einen Tangoabend. Als sie vor gut zwei Jahren zum Tanzen kam - eigentlich eher zufällig -, war sie überwältigt. Dass es sich dabei um eine Kunstwelt handelt, die ihre eigenen Regeln hat, musste sie erst lernen: die gelegentlichen Gefühle der Euphorie richtig einschätzen, sie relativieren. Zum Tango geht sie noch immer regelmäßig. Ihr langjähriger Freund bleibt dann zu Hause. Er kann nicht zusehen, wie sie mit anderen Männern tanzt.
Der Tango "wird uns bei unserer Eitelkeit und unserer Lust packen", schreibt Sartori. Er bietet eine "Vielzahl an erotischen Reizen und Signalen, die nicht selten zu Versuchungen werden, die Wunden aus dem eigenen Beziehungskampf in fremden Gewässern zu lindern." Sartori nennt es einen "erotischen Lernprozess", die Gefühle der Anziehung, die man im Tanz erlebt, richtig zu deuten; sie als wertvolle und dennoch flüchtige Momente der Intimität anzunehmen. Vielen Tänzern gelingt das nicht. Sie verlieren sich in der Suche nach Momenten der scheinbaren Perfektion.
Der Andere ist so nah, dass man wahrnimmt, wie sein Haar riecht. Die Nähe ist so groß, dass der Kopf ausschalten muss, wenn der Tanz beginnt. Nicht nachdenken, sonst wird die körperliche Kommunikation gestört und somit der Fluss der Bewegung. Im normalen Leben ist eine solche Nähe nicht erlaubt - im Tango ermöglicht sie eine Art "erlaubten Fremdgehens", wie es manche Tänzer nennen.
Der Argentinier Héctor Corona vermutet, dass es der allgemeine Mangel an körperlichem Kontakt in der westlichen Kultur ist, der so viele Menschen hier zum Tanzen führt. Der Tanz kann die Sehnsucht nach Nähe stillen, aber immer nur für eine kurze Zeit. Nicht selten verhindert er wirkliche menschliche Beziehungen durch den Reiz des oberflächlichen Kontakts. So schafft der Tango das, was Sartori "die Drei-Minuten-Beziehung des Tangos" nennt, "intensiv, leidenschaftlich, sinnlich und ohne Nachspiel. - Fast Food für die Seele."
Eine junge Frau im knappen roten Kleid tanzt mit einem Mann, über dessen fülligen Leib sich ein einfaches graues Hemd spannt. Er könnte ihr Großvater sein, aber tanzen kann er wie ein junger Gott. Daneben tanzt ein Mann im Anzug, weiter hinten auf der Tanzfläche ein Punk. Das Publikum ist bunt, das Spektrum an Altersklassen und sozialen Schichten breit. Manchmal verzögern die Tänzer ihre Schritte, kosten die Langsamkeit, die Intensität des Aufschubs ganz aus, bevor sie um so flüssiger weitertanzen. Kaum merklich schleifen die glatten Sohlen über das Parkett, schieben sich nach vorne und zurück, halten einen verdichteten Moment lang inne. "Mann und Frau sollten ihre Linien so auf den Boden ziehen, als würde dieser ersatzhalber die Liebkosungen erhalten, die eigentlich für den Partner bestimmt sind", lesen wir bei Sartori. "Die Beziehung zum Boden ist im Tango zärtlich."
Häufig sieht man Frauen miteinander tanzen. Zuweilen auch Männer, so wie in der Anfangszeit in Lateinamerika. Damals herrschte Frauenmangel in den von männlichen Einwanderern dominierten Städten. Die Männer übten ihre Schritte unter sich, gerieten aber in um so stärkere Konkurrenz: Der Tanz wurde zum Wettbewerb nicht nur um höchste Eleganz und Kunstfertigkeit, sondern auch um die Gunst der wenigen Frauen. Die Tangolieder der Entstehungszeit werden von Borges beschrieben als "Tangos der Anschuldigung, Tangos des Hasses, Tangos des Spotts und des Grolls, die sich gegen die schriftliche Übermittlung und gegen die Erinnerung sperrten". Die Texte bilden "eine unzusammenhängende, weitgespannte comédie humaine des Lebens von Buenos Aires". Noch immer drückt der Tango, der in den unteren Schichten der Gesellschaft entstand, viel vom Empfinden des Volkes aus. Viele Lieder enthalten Wörter in Lunfardo, dem Slang von Buenos Aires, die Ausdruck eines ganz eigenen Lebensgefühls sind.
Die enge Beziehung des Tangos zum sozialen Leben spiegelt sich in den Texten wider, die von elementaren menschlichen Erfahrungen berichten - Liebe und Verrat, Verlust der Jugend und moralischer Verfall. Sie erzählen davon, dass sich die Dinge niemals wirklich ändern und dass jemand, der an Fortschritt glaubt, das Leben einfach noch nicht kennt. Viele der Texte sind gesellschaftskritisch. Es geht um Korruption, um Raub - um Dinge, mit denen die Menschen zu kämpfen hatten und noch immer haben. Neue Tangos werden geschrieben, etwa nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch in Argentinien vor drei Jahren. "Aber auch die alten Tangos", sagt Héctor, "erzählen, was heute passiert."
In mehreren Etappen kam der Tanz nach Europa. Schon vor dem ersten Weltkrieg verbreitete er sich bis nach Frankreich und Spanien, außerdem in ganz Lateinamerika. Besonders tangobegeistert sind heute die Japaner, die mehrere Tangoorchester auf hohem musikalischem Niveau unterhalten.
Und dennoch scheint der Zugang zum Wesen des Tangos den Europäern verwehrt. Astor Piazzolla soll gesagt haben, dass man, um den Tango wirklich zu fühlen, in Buenos Aires geboren sein muss. Auch wenn das Lebensgefühl, das ihn hervorgebracht hat, in Europa nie ganz verstanden werden kann:, Der Tango scheint Bedürfnisse zu stillen, die gerade für den westlichen Menschen dringend sind. Im Tango findet die Sehnsucht nach wirklicher Erotik ihre Zuflucht, schreibt Sartori, "in einer Zeit, in der der Eros in den Medien durch die sogenannte Erotik gründlich mißhandelt wird."
Wo alle Geheimnisse entdeckt sind, wo alles erlaubt ist, da verkümmert die Erotik, die von Blicken und Gesten lebt, von Andeutungen und von der Sehnsucht. Vielleicht liegt hier der Grund dafür, dass der Tango in allen großen europäischen Städten getanzt wird, dass er so viele Menschen fasziniert und manche geradezu süchtig macht. In diesem Sinne scheint zutreffend, was ein argentinischer Tangolehrer formuliert hat: Tango, das ist Entwicklungshilfe aus Lateinamerika für die Europäer.
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