Viele Mitarbeiter im Pariser Justizministerium hatten ihre Schreibtische schon geräumt, Umzugskartons mit Ordnern und Kaffeetassen gefüllt, als Christiane Taubira plötzlich strahlend im Büro erschien: Sie bleibe im Amt. Zuvor war Taubira von der Parti Radical de Gauche offenbar davon überzeugt, in einem Kabinett unter dem Premier Manuel Valls unerwünscht zu sein, und hatte sich bereits von ihrem Stab verabschiedet. Sie galt seit Monaten als Belastung für François Hollande, weil es Millionen katholisch-konservativer Franzosen wegen ihres Gesetzes zugunsten gleichgeschlechtlicher Ehe auf die Straßen trieb. Seither hatten sich die linke Sozialistin und der sozialliberale Valls nicht mehr viel zu sagen.
Als dann aber der Präsident nach dem Desaster seiner Sozialisten bei den Regionalwahlen Ende März die Regierung umbildete, wollte er mit Taubira zumindest symbolisch eine linke Überzeugungstäterin halten. Es bedarf eines gewissen Korrektivs, wenn ein Manuel Valls wie kein zweiter die Wende zum wirtschaftsliberalen Reformschub verkörpert. Dessen Credo lautet: Die freie Kraft des Marktes belebt Wachstum und Wettbewerb, nichts sonst. „Französische Firmen brauchen mehr Freiheit und weniger finanzielle Bürden, damit sie einstellen können“, extemporierte Valls im ersten Fernsehinterview als Regierungschef. „Wir sind nur stark, wenn sich große internationale Unternehmen bei uns niederlassen und bleiben.“
Dass Valls später ergänzte, es müsse auch „gerecht zugehen in der Wirtschaft“, änderte kaum etwas am Tenor seiner Aussagen. Keine Frage, Hollande hat sich für einen Mann entschieden, der ihm eine sozialliberale Ausrichtung des Kabinetts garantiert. Frankreichs linke Regierung schwenkt so energisch zur Mitte, dass es der Staatschef schwer haben dürfte, die enttäuschten Sozialisten zusammenzuhalten. Wer sich in diesem Land in der Mitte tummelt, gerät oft zwischen die Mühlsteine und schnell in Vergessenheit.
Wie ein „Tretbootkapitän“
Jean-Luc Mélenchon – Chef des Wahlbündnisses Front de Gauche – hatte Hollande einst im Wahlkampf als „Tretbootkapitän“ verhöhnt. Und sollte recht behalten. Dieser Präsident regiert ohne Esprit und meidet bei Entscheidungen nur allzu oft einen wirklichen Fortschritt. Symptomatisch war sein Umgang mit Leonarda, einem Schulkind, das im Vorjahr in den Kosovo, das Herkunftsland seiner Eltern, abgeschoben wurde. Tausende Mitschüler veranstalteten Märsche und Meetings, damit Leonarda wenigstens bis zu ihrem Abschluss weiter auf eine französische Schule gehen konnte. Als der Protest anhielt, schlug Hollande einen zweifelhaften Kompromiss vor: Die 15-Jährige sollte nach Frankreich zurückkehren dürfen, jedoch ohne ihre Eltern. Leonarda lehnte das ab, Hollande hatte eine seiner typischen Halbheiten offenbart. Es wurden linke Sympathisanten verprellt, ohne dass es konservative Wähler großartig honorierten.
Nun also regiert der laut Umfragen beliebteste Sozialist im Hôtel Matignon. Perfektionist Valls hat es verstanden, sich als Innenminister und Hardliner in Szene zu setzen. Er limitierte die Zuwanderung, ließ Wohnquartiere von Roma räumen und polemisierte gegen eine Reform der Strafgesetzgebung von Kabinettskollegin Taubira. Auch mit der sakrosankten Programmatik der Parti Socialiste (PS) wie dem Bekenntnis zur 35-Stunden-Woche und der Rente mit 60 kann Valls nichts anfangen.
Was er an Selbstbewusstsein zeigt, scheint den Franzosen zu gefallen. Valls rangiert in der Popularitätsskala derzeit weit oben und weit vor Hollande. Die eigene Partei hat mit dem Kind spanischer Eltern des Öfteren gehadert. Als die PS-Mitglieder ihren Kandidaten für die Präsidentenwahl 2012 bestimmen konnten, kam Valls auf magere sechs Prozent. Umso mehr achtete er peinlich auf seine politische Autarkie und verlangte sogar, den historischen Namen der Partei von 1969 zu ändern, weil der nur noch „eine leere Hülle“ sei und nichts mehr bedeute.
Tatsächlich hat François Hollandes Präsidentschaft bisher wenig mit elementaren Ambitionen der französischen Linken gemein, für die er 2012 gewählt wurde. Seine größtes Werk ist der „Pakt für Verantwortung“, der Privatfirmen um 30 Milliarden Euro in der Hoffnung entlastet, durch dieses Geschenk würden im Gegenzug neue Jobs geschaffen. Bis heute wartet man darauf vergeblich. Noch nie waren in der V. Republik so viele Menschen arbeitslos – zuletzt 3,4 Millionen (Quote: elf Prozent).
Hollande hat sein Wahlversprechen gebrochen, Jobs zu schaffen, indem er die Kaufkraft stärkt. Stattdessen werden es die Bürger sein, die für jene 30-Milliarden-Euro-Entlastung der Privatwirtschaft aufkommen. Und damit nicht genug, Valls muss noch in diesem Monat Brüsseler Auflagen erfüllen und ein Programm vorlegen, mit dem der französische Staat 50 Milliarden Euro verteilt auf drei Jahre spart. Dies könnte bedeuten, Krankenkassen und Hospitäler geringer zu subventionieren als üblich, obwohl Hollande einst damit geworben hatte, sich in der EU für öffentliche Investitionen einzusetzen. Heute teilt seine Regierung notgedrungen die deutschen Spardogmen und nimmt die Dominanz von Kanzlerin Merkel im europäischen Staatenverbund mehr oder weniger ergeben hin. Unter Nicolas Sarkozy galt das als Zumutung.
Wenn sich der Élysée den EU-Auflagen fügt, bleibt der Regierung Valls wenig Spielraum. Etwa hundert sozialistische Abgeordnete haben daher in einem offenen Brief gefordert, mit der reinen Sparpolitik gar nicht erst anzufangen, an das ausgelaugte Griechenland zu denken und lieber öffentliche Jobprogramme zu starten.
Die Grünen sagen ab
Hollande schweigt zu allen Vorbehalten und sucht für seine wirtschaftsliberale Kehrtwende Beistand bei alten Weggefährten: Ségolène Royal, früher Präsidentschaftskandidatin der Sozialisten, hat mit der Kabinettsreform das Umwelt- und Energieministerium übernommen. Sie könnte zur Schlüsselfigur der Regierung werden und hat sich schon am ersten Tag ihres neuen Mandats gegen einen „strafenden Umweltschutz“ ausgesprochen. Es solle keine „Öko-Abgabe“ auf Benzin und keine zusätzlichen Steuern für Unternehmen geben, die viel Energie verbrauchen. Gleichwohl werden Royal sensible Vorhaben beschäftigen: Frankreich will langfristig einen Teil seiner Kernkraftwerke schließen und künftig über diese Ressourcen nur noch 50 statt bisher 80 Prozent seines Energieverbrauchs abdecken. Außerdem scheint Royal über den Bau des umstrittenen Flughafens Notre-Dame-des-Landes nordwestlich von Nantes alles andere als begeistert. Auch für die Partei Europe Écologie-Les Verts (EELV), die der neuen Regierung demonstrativ fernbleibt, seit Jahren ein Ärgernis.
„Die Präsidentenwahl 2012 war ein Tsunami, der unsere Politik hätte revolutionieren müssen. Aber Hollande hat nur die Form geändert, nicht den Inhalt“, meint Cécile Duflot, bis März für die EELV Wohnungsbauministerin. Ohne die Grünen haben die Sozialisten in der Nationalversammlung nur noch eine Mehrheit von zwei Stimmen. Der „Tretbootkapitän“ sollte jetzt einen überzeugenden Kurs steuern.
60-Punkte-Wahlprogramm der Sozialisten von 2012 (Auszüge)
Vorhaben erfüllt
- Senkung der Vergütungen für den Präsidenten, den Premier und die Minister
- Rückkehr zu einem allgemeinen Renteneintrittsalter von 62 Jahren
Vorhaben teilweise erfüllt
- Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen durch Steuernachlässe
- Mehr Stadt- und Quartiersmanagement, erhöhte Polizeipräsenz in Problemvierteln
- Heirat und Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare
- Schaffung von 60.000 neuen Stellen im Bildungswesen
Vorhaben nicht erfüllt
- Trennung von Dienstleistung und Investment bei allen Bankhäusern
- Verstärkter sozialer Wohnungsbau mit 150.000 geförderten Wohnungen
- Kampf gegen Prekarisierung, Abgaben für Unternehmen im Billiglohnsektor
- Schaffung von 150.000 Arbeitsplätzen für 18- bis 25-Jährige pro Jahr
- Neuverhandlung der EU-Verträge und Abschluss eines europäischen Wachstums- und Beschäftigungspaktes
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