Nur eine Sünde gibt es im Restaurant mit französischen Freunden: die Rechnung auf den Centime genau aufzuteilen, womöglich gar mit einer Taschenrechner-App. Das gemeinsame Essen ist für Franzosen und Französinnen noch immer ein wichtiges soziales Moment, ein geselliger Genuss, für den gern viel Zeit und, wenn man genug davon hat, gern auch viel Geld ausgegeben wird. Wer sich gemeinsam auf einen Aperitif verständigt, den Wein passend zu Vorspeisen und Hauptgericht auswählt und, unter angeregtem Geplauder, selten vor Mitternacht zu Mousse au Chocolat und Crème brûlée übergeht, der mag danach nicht rechnen, der lädt sich einfach wechselseitig ein.
Frankreich-Spezial
Wir beschäftigen uns diesmal ausführlich mit Frankreich, dem Gastgeberland der Fußball-EM – aber dabei geht es eben nicht um die altbekannten Klischees der (vermeintlichen) Grande Nation. Mit Reportagen, Essays und Interviews wollen wir das „andere Frankeich“ zeigen. Ein Land zwischen Aufbruch und Aufruhr: Eine Sonderausgabe über unser Nachbarland
Ja, so filmreif laufen auch heute noch viele französische Essen ab. Die Traditionen erstarken mittlerweile sogar wieder. Sonderhefte und Dossiers, etwa in der Tageszeitung Le Monde, feiern im Moment verstärkt die gute alte cuisine bourgeoise, die bürgerliche Küche. Angepriesen werden mit Orangenlikör flambierte Crêpes, südfranzösischer Gulasch mit Oliven, gefüllte Kohlrouladen, in Rotwein pochierte Eier. „Die moderne Küche der vergangenen Jahre war in London, Paris, Kopenhagen und New York dieselbe“, sagt Chefkoch Yves Camdeborde, der sich mit der Bistronomie, einer veredelten Küche für Brasserien, einen Namen gemacht hat. „Ablöschen, köcheln lassen, braten – das ist unsere Identität.“ Eine Küche, die sich nach dem Geschmack richte und bei der nicht die „Kunst“ im Vordergrund stehe.
Das Bio-Siegel hat es schwer
Noch vor wenigen Jahren als „spießig“, „zu fettig“ und „altmodisch“ beschrieben, wird in den guten französischen Restaurants also wieder betont bodenständig gekocht. Es ist eine bewusste Rückkehr zu den französischen Wurzeln, zu den Rezepten von Konditoren wie Jules Gouffé oder Köchen wie Auguste Escoffier. Sie machten Anfang des 20. Jahrhunderts die französische Küche erst berühmt, noch heute sind Schulen nach ihnen benannt.
Ungeachtet aller innenpolitischer Krisen verbindet die Franzosen eines ganz bestimmt: das Gefühl, dass ihre Küche zu den besten der Welt zählt. Gleich, welchem politischen Lager sie angehören, sie halten ihre Traditionen arglos hoch. Bei nahezu jedem Weihnachts- oder Silvesteressen, und sei es auch bei einer noch so schmächtigen Firma, wird als Vorspeise die berühmte Gänsestopfleber serviert. Bemerkungen darüber, wie brutal den Tieren wochenlang fettiger Maisbrei in den Magen gepumpt wird, werden als unpassend ignoriert – oder einfach weggelacht, etwa als „typisch deutsches“ Bedenken. „Wir sind eben Ignoranten in der Küche“, sagte einmal ein ansonsten sehr kritischer französischer Freund und biss genüsslich in die warme Scheibe Leber auf seinem Neujahrstoast.
Was ihre Küche anbetrifft, sind die Franzosen selbstzufrieden und kaum kompromissbereit. Und so ist es nur logisch, dass internationale Fastfood-Ketten dort auch Croque Monsieur oder McBaguettes im Sortiment haben – und tatsächlich auch: Burger mit Gänsestopfleber.
Diese Nabelschau hat auch ihr Gutes: Markthändler bewarben ihr französisches Gemüse und Obst schon mit dem Attribut „aus der Region“, lange bevor der Klimawandel weite Transportwege mit schlechtem Gewissen belegte. Franzosen wissen gemeinhin, welches heimische Gemüse sich im Juni anbietet – und dass Erdbeeren im Winter nicht schmecken können. Sie brauchen kein Bio-Siegel dafür. Im Gegenteil: „Lokal ist besser als bio“, sagen viele Franzosen. Ökologisch orientierte Produzenten hatten es deshalb lange schwer. Erst allmählich entstehen nun auch in Frankreich Bio-Läden. Manche Gourmets behaupten allerdings weiterhin, Bio-Wein würde ihnen nicht schmecken, obwohl alle wissen, dass viele konventionelle Winzer reichlich Gift auf ihre Reben versprühen. Überhaupt, der Wein: Jeder und jede scheint sich damit auszukennen, und als bekannt wurde, dass ein chilenischer Rebensaft als offizielles Getränk für das Radsportereignis Tour de France ausgewählt wurde, drohten Winzer und Anwohner, die Etappen durch französische Weinberge zu blockieren.
Essen und Trinken werden in Frankreich nach wie vor als ein nationales Kulturgut begriffen. Der Staat sieht sich ganz offiziell als verantwortlich für die Ernährung seiner Bürger und versieht seit einer Weile jede Werbung für Nahrungsmittel mit dem Zusatz: „Bewegen Sie sich. Und vermeiden Sie es, zwischen den Mahlzeiten zu naschen.“ Eine Abteilung des Wirtschaftsministeriums legt jedes Jahr neue Richtlinien dafür fest, was Schul- und Betriebskantinen anbieten sollen. Da werden etwa Quoten für Gemüse und Grenzen für Haushaltszucker ausgegeben. Und es wird für möglichst „ganze Stücke“ vom Fleisch plädiert, denn viele Franzosen lieben steak haché, das durch den Fleischwolf gedrehte Rinderstück, das meist roh und mit einem ebenfalls rohen Ei als Haube auf dem Teller landet, aber nun mal nicht besonders gesund ist.
Fleisch als Kulturgut
Vegetarisches oder gar veganes Essen hat seinen Weg bislang höchstens in einige Metropolen-Restaurants gefunden. In Bistros bekommen Fleischverächter bis heute manchmal noch Tomatensauce mit Speck serviert. Für Franzosen ist das schon so gut wie vegetarisch – weil kein deutlich erkennbares Stück Steak auf dem Teller liegt. In den Mensen, den Kantinen und auch schon in den Kindertagesstätten wird Fleisch an jedem Tag der Woche und in allen erdenklichen Formen serviert, als Entrecôte, als gebratene Scheiben von Kochschinken, Entenbrust oder Kartoffelgratin mit Hackfleisch. Kürzlich hat unser Kindergarten einen vegetarischen Tag eingeführt – nur einen pro Monat. Aber aufgeregte Eltern beschwerten sich sofort bei der Leiterin: Ob jetzt etwa am Essen gespart würde? Fleisch und Fisch gehören definitiv zu einer französischen Mahlzeit dazu, sehr viel mehr als Kartoffeln, Nudeln oder Reis, die sich meist nur in sehr kleinen Portionen auf dem Teller befinden.
In den abgeschlagenen, verarmten Vorstädten wird freilich weniger „französisch“ gegessen als in mittelschichtigen oder wohlhabenden Vierteln. Wer auf Sozialleistungen angewiesen ist, deckt sich meist am Anfang des Monats mit den wichtigsten Lebensmitteln ein, in den großen Supermärkten, die in Frankreich oft zu riesigen Hypermarchés auswuchern. Zur zweiten Monatshälfte, wenn das Geld knapp wird, ist man auf Kredite kleiner Händler in der Nachbarschaft angewiesen. Oder man taut die auf Vorrat und als Sonderangebote angeschafften Tiefkühlpizzen und panierten Fischstücke auf. Der Geldmangel treibt auch in Frankreich viele Menschen zu ungesundem Essen. Europaweite Studien belegen: Die benachteiligten Schichten haben quer über die Ländergrenzen hinweg mehr gemein als wohlhabendere Bürger. Arme deutsche Menschen essen so wenig Obst, so viel Weißbrot und minderwertige Süßwaren wie arme französische Menschen, beide essen sozusagen an Alfons Schuhbeck und Paul Bocuse vorbei.
Wobei es einen gravierenden Unterschied gibt: Immerhin servieren auch Kitas und Grundschulen in armen französischen Vorstädten ihren kleinen Gästen jeden Tag vier Gänge. Die Menüpläne an den öffentlichen Schulen sind tatsächlich eindrucksvoll: Schon Zweijährige erwartet als Vorspeise Blätterteiggebäck, das mit Tomaten und Mozzarella gefüllt ist, es folgt ein gegrilltes Putenschnitzel mit Süßkartoffeln und Möhrengemüse, schließlich ein Stück Käse und ein Fruchtjoghurt. Am folgenden Tag gibt es geraspelte Möhren und Zucchini, in Folie gedünsteten Seehecht an Wildreis mit Bohnen, Camembert und frische Erdbeeren. Nachmittags wiederum bereiten Kita-Küchen hausgemachte Sandplätzchen, pürierte Früchte der Saison, Grießbrei, Obstspieße und Gewürzbrot zu.
Ingesamt verwenden die Franzosen einen doppelt so hohen Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel wie wir Deutschen, nämlich rund 20 Prozent. Stundenlang können sie über die beste Saison für einen bestimmten Käse, über Tomatensorten und das knackigste Baguette der Stadt fachsimpeln. 2010 hat die UNESCO die französische Küche als „immaterielles Kulturgut“ anerkannt und zum Weltkulturerbe ernannt. In dem achtminütigen Bewerbungsfilm war kein berühmter Sternekoch zu sehen. Sondern Schulkinder, die beflissen Gemüse schnippeln. Französisches Gemüse, versteht sich.
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