Die Rosen der Bibliothekarin

Kurzgeschichte Es war schon lange niemand mehr durch den Lesesaal gegangen. Ich saß allein an meinem viereckigen Tisch zwischen den Regalen und lernte Auge.

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Bei Auge traute ich mich nicht auf Lücke zu setzen.

Durch das Fenster sah ich nur noch mich und die Gänge hinter mir. Denn es war bereits dunkel.

Etwas weiter rechts von mir, vier, fünf Bücherreihen vielleicht, stand die schöne Bibliothekarin auf dem runden Hocker, der nicht mehr rollt, sobald man sich darauf stellt. Leise hörte ich sie. Irgendwann am Nachmittag hatte ich sie gesehen. Ein paar Schritte lief sie vor mir. In ihren roten Pumps, die Beine nicht so ganz in die schwarzen Netzstrümpfe, also wie man so sagt, gehüllt, also nicht so ganz, also wie gesagt.

Ich bin nicht besonders groß, vor allem im Sitzen nicht. Die Lücke zwischen dem dritten und dem vierten Regalboden der Regale neben mir befand sich auf Augenhöhe. Und irgendwann zwischen Photorezeptor und Pigmentfleck schaute ich nach rechts. Und sah sie da stehen. Ihre Beine. Eben nicht so ganz gehüllt in die Netzstrümpfe, die sie an diesem Tag zum ersten Mal trug. Von etwas weiter oben quietschten die Metallschienen, die die Bücher hielten. In der Spätschicht räumte im gesamten letzten Jahr niemand Bücher ein. In der Spätschicht, die sie an diesem Tag zum ersten Mal machte. Sie rückte näher. Schlemm-Kanal, drei Reihen weg. Irisfortsätze, zwei Reihen weg. Pupille, die Reihe neben mir.

Ich hörte wieder, wie sie auf den runden Hocker stieg. Und ich drehte mich, würde ich sagen, wenn man mich fragte, nach dem Geräusch um. Ich erkannte das Muster auf den Strümpfen, Rosen, und genoss es, sie minutenlang zu betrachten, ungesehen, gewogen in die Sicherheit, geschützt zu sein: Keine 30 Zentimeter zwar. Aber 100 Bände zwischen uns. Ein Buch nach dem nächsten holte sie heraus, verschob ein paar, zog und rückte andere. Einmal beugte sie sich leicht nach vorn. Da spannte ihr Rock. Ein anderes Mal stellte sie sich auf die Zehenspitzen und reichte, ein Bein angewinkelt, ganz nach oben. Und ich sah derweil den Rosen zu und der Genuss war minutenlang fast ununterbrochen von den Gedanken an die Dinge, die Menschen denken, wenn sie von jemandem wie mir nur hören.

Dann stiegen die Rosen vom Hocker herab und ich drehte mich noch im selben Moment zurück nach vorn, zur Sicherheit, sah geradeaus in das Fenster und in mein Gesicht, zur Sicherheit, und knallte direkt gegen ihn: ihren Blick. Auf mich gerichtet aus der Reihe neben mir sprang er mich aus dem Fenster an. Augenbraue hochgezogen. Ganz und gar nicht überrascht. Und erst ihr Lächeln.

Hinweis: Es handelt sich um eine Zweitverwertung.

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