Das innere Ausland

Literatur Pierre Bayards "Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist"

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http://www.randomhouse.de/content/edition/covervoila/142_15808_142796_xl.jpgReisen in fremde Länder erweitern den eigenen Horizont. Für die Unannehmlichkeiten des Reisens entschädigen die Erfahrungen, die man macht, wenn man Neuland betritt. Auch Zuhausegebliebene lassen sich oftmals gerne neugierig über Erlebnisse und Abenteuer in fernen Kulturen berichten. Doch wie plaudert man über exotische Länder, die man gar nicht besucht hat? Wie trumpft man auf Partys mit Reiseerlebnissen auf, die frei erfunden sind? Für das entspannte Sprechen über nie besuchte Orte zieht Pierre Bayard in seiner essayhaften Typologie zwölf bekannte Vorbilder heran. Neben Beispielen wie Karl May, der Winnetous Wilden Westen nie betreten hat, oder Margaret Mead, deren wissenschaftliche Berichte über das Sexualleben auf den Samoainseln weitgehend fiktiv sind, untersucht der Pariser Literaturprofessor und Psychoanalytiker auch berühmte Romanfiguren, Journalisten und Philosophen, die munter über Reiseerlebnisse aus zweiter Hand schwadronieren. Sein kurzweiliges Plädoyer für den sesshaften Reisenden gliedert sich in die Abschnitte „Arten des Nichtreisens“, „Gesprächssituationen“ und „Empfohlene Haltungen“. Bayard ist sichtlich um einen unterhaltsamen und zugleich wissenschaftlichen Zugang zu den herangezogenen Beispielen bemüht, ergeht sich jedoch oftmals allzu sehr in der Psychoanalyse und verwirrt durch widersprüchliche Formeln. Er arbeitet mit zahlreichen Zitaten aus den untersuchten Werken, Fußnoten, Kürzeln und einem Glossar.

Zwischen Reise und Nichtreise

Bayard entlarvt die Kenntnisse Marco Polos (1254-1324), der für seine ausgedehnten Auslandsreisen, insbesondere nach China, Weltruhm erlangte, als nur rudimentär, wenn er auf Ungereimtheiten in geschilderten Details und große Lücken verweist. So erwähnt der Venezianer etwa in keiner seiner Aufzeichnungen über das asiatische Mittelalter die Chinesische Mauer. Bayard lobt die Einbildungskraft Marco Polos, wenn er vermutet, dass die meisten geschilderten Reisen real nie stattgefunden haben. In einem anderen Kapitel betrachtet Bayard die Romanfigur Phileas Fogg aus Jules Vernes Reise um die Erde in 80 Tagen (1873). Phileas Fogg verweigert sich auf einer Weltreise jeder Form von Tourismus. Er möchte sich in der für die Reise knapp terminierten Zeit von fremdländischen Reizen nicht absorbieren lassen. Wenn Foggs Diener als seine Informanten Erfahrungen in fremden Ländern machen, die Entscheidungen erfordern, urteilt Fogg ohne seine Kabine zu verlassen aufgrund der ihm eigenen Imaginations- und Reflexionskraft. Foggs Interesse dafür, den Überblick zu behalten lobt Bayard als im Einklang mit Sigmund Freuds Empfehlung zur sogenannten schwebenden Aufmerksamkeit für Psychoanalytiker, bei der stets auch dem Unbewussten der nötige Raum gegeben wird.

Der sesshafte Reisende

Die französischen Schriftsteller Édouard Glissant und Francois René de Chateaubriand schreiben Reiseberichte mit ausdrucksstarken und poetischen Bildern, ohne selber vor Ort gewesen zu sein. Um trotzdem die realen Vor-Ort-Gegebenheiten zu berücksichtigen, greifen sie auf Vorgängerquellen oder ausgewählte Informanten zurück. Bayard begreift ihr Beispiel als eine „Form der Unreise,“ die für die Wahrnehmung der Orte jedoch gerechtfertigt und nötig sei. Denn nur so könnten sie bei den Orten „über ihre faktische Realität hinaus ihre universelle Tragweite zur Geltung“ bringen. Bayard lobt den Verzicht auf eine Beherrschung des unbekannten Ortes durch so etwas wie einen tatsächlichen Besuch als wertvoll für einen umfassenderen schöpferischen Prozess. Auch das Beispiel Jayson Blair untersucht Bayard mit einem philosophischen und psychoanalytischen Ansatz. Blair verhält sich Bayard zufolge sogar als „wahrer Schriftsteller“, wenn er bei seinen zahlreichen Artikeln für die New York Times auf eine Vor-Ort-Recherche verzichtet, dadurch jedoch die Grundregeln und die Moral des Journalismus verletzt. Bayard veranschaulicht am Beispiel Blairs, dass sich die eigene psychische Präsenz oftmals nicht mit der physischen Präsenz deckt. Aus der Distanz durch ausführliche Recherche für Artikel plagiierte und frei erfundene Details erzeugen keine Buchstabentreue zur Wirklichkeit, vielmehr eine literarische Wahrheit, so Bayard. In weiteren Kapiteln beschäftigt sich Bayard unter anderem mit einer Sportlerin, die ihren Dauerlauf durch eine Bahnfahrt abkürzt und mit einem Vater, der seiner Familie die eigene Arbeitslosigkeit über einen längeren Zeitraum hinweg verheimlicht.

Unbekannte, überflogene, erwähnte und vergessene Orte

Leider wirken einige von Bayards Lesarten überholt, wenn er etwa bei seinen Betrachtungen wiederholt die Psychoanalyse Freuds bemüht und für Nina Berberovas Das schwarze Übel (1993) die ödipal-familiale Urszene Freuds als Vergleich heranzieht oder bei der Untersuchung von George Psalmanazars Formosa (1704) von einer Kompromissbildung im Freudschen Sinne spricht, welche „einem Traum oder Wahn vergleichbar“ sei. Manchmal sind Bayards Beschreibungen der untersuchten Werke und Autoren auch schlichtweg falsch, so erwirbt etwa Karl May 1896 selber kein „Bärentöter“-Gewehr, wie Bayard in seinen süffisanten und gestelzten Ausführungen über May behauptet. Karl May erwirbt jedoch 1902 ein „Henrystutzen“-Gewehr, das auch zur Ausstattung von unter anderem seiner Figur Old Shatterhand zählt. Im Großen und Ganzen regt Bayard jedoch dazu an darüber nachzudenken, dass man es beim Reisen nie mit irgendwelchen hypothetischen realen Orten zu tun hat, sondern mit beliebigen, subjektiven, einem unerschöpflichen Repräsentationsganzen entnommenen Bildern. Deshalb geht es bei extensiven und poetischen Reisebeschreibungen auch darum fantasievoll ein imaginäres Land, einen atopischen literarischen Raum fernab realer geografischer Bezugspunkte zu finden. http://vg03.met.vgwort.de/na/0c1abdf8129d43b9b655572a34da7c03

Diese Buchrezension erschien erstmals am 29.12.2013 auf Campus Web.

http://vg03.met.vgwort.de/na/7eac252f275a448b9e9842873cda9243

Infos zum Buch:

Pierre Bayard – Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist

Verlag: Antje Kunstmann
Genre: Wissenschaftliches
Erschienen: März 2013
Übersetzung: Lis Künzli
ISBN: 9783888978258
Bindung: Hardcover
Seiten: 215
Preis: 18,95 €
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Geschrieben von

Ansgar Skoda

Redakteur& Kulturkritiker u.a. bei der "TAZ" & "Kultura Extra" http://about.me/ansgar.skoda Webentwickler und Journalist

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