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Theater Mirja Biel ergänzt in "Werther" am Theater Bonn Goethes Romandebüt um Tagebuchauszüge Kurt Cobains, Courtney Loves und 70er-Jahre Punk und verblüfft teilweise effektvoll

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Benjamin Berger als "Werther" am Theater Bonn
Benjamin Berger als "Werther" am Theater Bonn

Foto: Thilo Beu

Die erste Liebe ist besonders intensiv, so trifft einen die erste Zurückweisung auch besonders hart. Hingabefähigkeit, Melancholie und Verbohrtheit verkörpert Benjamin Berger mit enormer Bühnenpräsenz als Werther im gleichnamigen Stück frei nach Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther (1774) am Theater Bonn. Werther sinniert erst einfühlsam in einem Monolog über die Schönheit und Reinheit der Natur, um dann einzelne Zuschauer im Publikum anzusprechen mit Fragen, die direkt auf das Privatleben zielen, etwa: „Bist du schwul?“ Nach der verneinenden Antwort einzelner Theaterbesucher meint er „Ich bin auch nicht schwul, wäre es jedoch gerne.“ Beinahe fürchtet man noch weitere explosive Fragen, etwa ob im Zuschauerraum Angehörige der muslimischen oder jüdischen Religion sitzen. Gesellschaftliche Verhältnisse kritisierend, provoziert dieser Werther gerne und effektvoll. Bereits hier deuten sich das Suchende, die Auflehnung und emotionale Unbedingtheit Werthers an, die ihn später bis in den Selbstmord treiben werden.


Berger trägt als Werther ein T-Shirt mit einem Motiv des US-amerikanischen Künstlers Daniel Johnston, das eine absonderlichen Figur zeigt, bei der die Augapfel unterhalb des Schriftzugs „Hi –How are you?“ antennenartig hervortreten (Kostüme: Luisa Pahlke). Der Allround-Künstler Johnston verarbeitet in seinem umfangreichen und extravaganten Werk Selbsthass und sein Scheitern am Erfüllen eines klassischen männlichen Rollenbildes, auch aufgrund manischer Depressionen. Kurt Cobain, legendärer Sänger der US-amerikanischen Band Nirvana, machte Johnstons Motiv als Träger eines ähnlichen T-Shirts bei den MTV-Awards 1992 bekannt. Texte aus Tagebüchern von Kurt Cobain und seiner großen Liebe, der Sängerin Courtney Love, vermengt Regisseurin Mirja Biel mit der literarischen Vorlage von Goethes Briefroman. Eine naheliegende Verknüpfung - war doch das Leben des Nirvana-Frontmanns ähnlich der Werther-Figur geprägt von Auflehnung, gesellschaftlichen Gegenentwürfen, dem Aufruhr der Gefühle, Rausch, Rückzug und Depression. Auch Cobain nimmt sich wie Goethes Figur früh das Leben. Der Grungemusiker gilt bis heute als Kultfigur, ebenso wie Goethes Werk zur Zeit seiner Veröffentlichung ein Sensationserfolg war und zum Schlüsselroman der damals entstehenden literarischen Bewegung des „Sturm und Drang“ wurde. Der Debütroman des damals 24jährigen löste im Zuge seiner gefeierten Veröffentlichung eine Suizidwelle gleichaltriger Jugendlicher aus, was heute in der Wissenschaft auch den Begriff des „Werther-Effekt“ begründet.

Vielfach improvisiert wirkende Textsequenzen stehen neben vorgetragenen Auszügen aus Tagebüchern Cobains und Loves und zahlreichen Songeinspielern von Neil Young bis hin zu den Sex Pistols, allesamt Wegbereiter und Inspirationsquellen für Nirvana. So tritt Goethes vielschichtige und poetische Sprache oft in den Hintergrund. Johanna Falckner spielt kokett eine ihrer selbst und ihrer Reize bewusste Lotte, die es genießt, unter ihren Verehrern wählen zu können, jedoch einmal Abgewiesene weiterhin um sich wissen möchte. Robert Höller begeistert als Verlobter Lottes und Konkurrent Werthers mit furiosen Auftritten, in denen er großspurig und gestenreich über die Möglichkeiten des Erfolgs des Individuums palavert und dabei überspitzt-ironisch an Wahlkampfreden der FDP erinnert. Die Darsteller stilisieren ihre Figuren geschmackvoll auch durch gekonnte Choreographien, vermitteln jedoch das vielschichtige und komplexe Gefühlsleben nicht immer authentisch und glaubwürdig. Insbesondere das an eine Kreuzigung erinnernde Schlussbild wirkt unstimmig und platt. Regisseurin Biel setzt so insgesamt einige neue und erfrischende Akzente, schafft es jedoch nur teilweise, die Gefühle ihrer Figuren ernst zu nehmen, dies jedoch um ein Vielfaches mehr als etwa Simon Solberg mit seiner jüngsten, betont improvisiert und modern wirkenden Werther-Inszenierung der Vorlage am Schauspiel Stuttgart.

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Benjamin Berger als "Werther" am Theater Bonn (c) Thilo Beu

Diese Besprechung erschien erstmals am 24.1.2016 auf Kultura Extra.

WERTHER (Kammerspiele Bad Godesberg, 16.01.2016)
Regie: Mirja Biel
Bühne & Kostüme: Luisa Pahlke
Licht: Max Karbe
Video: Lars Figge
Dramaturgie: Johanna Vater
Besetzung:
Werther … Benjamin Berger
Lotte … Johanna Falckner
Albert … Robert Höller
Premiere am Theater Bonn war am 17. Dezember 2015
Weitere Termine: 30. 1. / 12. 2. / 16. 3. / 22. 4. 2016

Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-bonn.de

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Geschrieben von

Ansgar Skoda

Redakteur& Kulturkritiker u.a. bei der "TAZ" & "Kultura Extra" http://about.me/ansgar.skoda Webentwickler und Journalist

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