Wenn die Luft Feuer fängt

Argentinien Der Klang der Bombos verhallt erst spät in der Nacht - inmitten von Depression und Krise wird mit der "Murga" eine Renaissancedes Straßenkarnevals zum Selbstläufer

Ohrenbetäubend tönt Cumbia-Musik aus plärrenden Lautsprechern. Die Hitze klebt auf der Haut. Auch die Nacht kann die Schwüle nicht vertreiben. Menschen drängen aneinander vorbei, stehen in Grüppchen. In der Luft liegt der Duft von Paprikawürsten. Mataderos, der Bezirk der Fleischer von Buenos Aires, hat zur Murga geladen.
Agustín Fernández - genannt Tinti - zieht sich nervös den rot-weißen Seidenfrack zurecht und streicht noch einmal über seine grauen Haare. Das Plärren der Lautsprecher versiegt. Ein Pfiff mit der Trillerpfeife, das erste sanfte, scharrende Tamtam der Bombos und Trommeln. Auf einmal steht keiner mehr still. Ein Schub Richtung Bühne, die ersten beginnen zu tanzen. Über den Köpfen der Menschen schaukelt der Rey Momo, eine riesige ausgestopfte Puppe. Mühsam bahnt sich sein Träger den Weg durch die Menge. Die Straße frei für die Tänzer. Tinti kann nicht mehr an sich halten. Seine Füße nehmen den Rhythmus auf. Noch ein Pfiff und der Bann ist gebrochen. Hundert rot-weiße Seidenfracks wirbeln herum, Arme und Beine fliegen durch die Luft. Für die Murga Los Mocosos de Liniers hat der Auftritt begonnen.
Seit mehr als zehn Jahren besinnt man sich in Buenos Aires wieder auf diese alte Tradition. Murga, das ist Volksfest, bunter, rhythmischer Protest, grotesker Tanz, das war einst die Flucht der schwarzen Haussklaven aus ihrem tristen Dasein. Mit Gesängen und pittoresken Bewegungen machten sie sich über ihre Herren lustig. Heute erinnert an diese Ursprünge noch die Verkleidung - die Seidenfracks, die Handschuhe, die Hüte.
Tinti ist einer der ältesten Murgueros der Stadt. Er kann viel von früher erzählen, von damals, als die Obristen der letzten Diktatur - das war Ende der siebziger Jahre - die Murga noch nicht verboten hatten. Als Frauen noch nicht mittanzen durften. Als es nicht immer nur gesunde Konkurrenz zwischen den verschiedenen Murgas gab. Als so mancher Auftritt mit einer Schlägerei endete.

In den Jahren der Diktatur ...



... startete jeden Mittwoch eine Militärmaschine vom Stadtflughafen Aeroparque mit Kurs auf hohe See. Der Laderaum war mit ein bis zwei Dutzend Häftlingen gefüllt. Sie waren entkleidet und mit einer hohen Dosis Penthotal betäubt. In 3.000 Metern Höhe wurde mit Knopfdruck die Klappe geöffnet und die Ladung in den Rio de la Plata gekippt. Zwei Jahre lang - 1976 und 1977 - wurden auf diese Art Gegner der argentinischen Militärdiktatur ermordet, insgesamt etwa 2.000 Menschen.
Ich nenne ausdrücklich keine Namen von Kameraden, sage aber, bei den Todesflügen waren alle dabei. Die meisten haben später unter den demokratischen Regierungen ihre Karrieren ungehindert fortsetzen können und sind schließlich mit allen militärischen Ehren in den Ruhestand versetzt worden.
Aus einem Bericht des Kapitäns Adolfo Scilingo gegenüber der argentinischen Zeitung "Página/12", abgegeben im März 1996.

Das sind Erinnerungen an fremde Murgas. Tintis Murguero-Leben begann erst spät, mit 62 Jahren. Schuld war die Enkelin. "Sie wollte Maskottchen werden, als die Murga Los Mocosos de Liniers sich nach 20 Jahren wiedergründete. Und da ich Schneider bin, habe ich dafür eben die Seidenfracks genäht. Aber das reichte mir nicht." Tintis Gesicht hellt sich noch mehr auf, wenn er an diesen Augenblick zurückdenkt. "Ich war verrückt nach Tanz. Und die Murga hatte mich von jeher gefesselt, aber erst durch meine Enkelin stieß ich wirklich dazu."
Heute ist Tinti mit seinen 74 Jahren stadtbekannt. Jubel, wo immer er auftaucht und tanzt. Er stiehlt all den jungen Tänzern um sich herum die Show. Auch jetzt tanzt er wieder in der ersten Reihe. Leicht vorgebeugt, die Arme in ruckartigen Bewegungen von sich werfend, sucht er den Kontakt zum Publikum. Die Luft brennt. Los Mocosos de Liniers haben den ersten Teil, die Entrada, hinter sich. Paco, der die Fahne mit dem Emblem der Murga schwenkt, hält erschöpft inne. "Die Leute hier haben uns richtig willkommen geheißen", sagt er atemlos. Es gehört zum Ritual, dass sich eine Murga ankündigt und vorstellt. Wechselgesänge heizen die Stimmung an, bevor der Hauptteil - ein langes Lied - beginnt. Ein Lied, das alles fahren lässt, was den Sänger bewegt, das Alltag und Politik parodiert und oft an Galgenhumor grenzt.

Die Murga hilft dir, glücklich zu sein


Tinti rinnt der Schweiß von der Stirn, aber seine Füße kommen nicht mehr zur Ruhe. Immer wieder löst sich eine Frau aus dem Publikum und tanzt ein paar Schritte mit ihm. Johlend wird so viel Mut begrüßt. "Ich habe sogar schon Anträge bekommen, von jüngeren Frauen", erzählt er nicht ohne Stolz. "Aber für mich gibt es nur eine Frau, meine Luisa, die hat sich nicht verrückt machen lassen, als mich alle für verrückt erklärten." Die Murga reiße mit, meint Tinti noch, auch wenn alle viel jünger seien, er fühle sich wohl bei den Mocosos.
Tintis Lieblingstage sind Freitag und Samstag. Dann ist Probe. Dann trifft sich seine Murga auf der Plaza de José León Suarez y Martinez de Hoz. In fast allen Bezirken der Stadt gehören Murgas dadurch einfach zum Straßenbild. Schon von weitem sind die tiefen Schläge des Bombos zu hören. Die Leute bleiben mit ihren Einkaufsbeuteln stehen. Die Probezeiten sind mit dem Stadtrat abgesprochen, damit sich niemand gestört fühlt, doch das kommt selten vor. Die Murgas sind der Stolz eines jeden Stadtteils. Hunderte von Hinchas - den Fans - begleiten ihre Murga zu den Auftritten. Man lebt von dieser Solidarität. "In einer Gesellschaft, die dich täglich aufs Härteste angreift, ist die Murga ein Ort, an dem du dich zugehörig fühlst, wie zu einer großen Familie", sagt Coco, der mit Tinti bei den Mocosos tanzt. Genau deshalb brauchen sich Murgas auch nicht um Zulauf zu kümmern. Gerade jetzt, während der schwersten Krise Argentiniens seit 100 Jahren, inmitten von Hoffnungslosigkeit und Depression, sind Murgas zum Selbstläufer geworden. Denn, so heißt es unter den Murgueros, die Murga hilft dir, glücklich zu sein.

Tinti hat seinen Seidenfrack ausgezogen


Rauch vom Holzkohlengrill liegt über den Tanzenden. Auch wenn Mitternacht längst vorbei ist, strömen noch immer Leute aus den umliegenden Häusern zum Fest. Die Bombos werden lauter, schneller, heftiger, der Tanz ekstatisch. Arme und Beine verrenken sich, als wollte der Murguero alles aus sich herausschütteln. Tinti kann nicht mehr springen. Sein Seidenfrack klebt an der Haut. Aber er tanzt weiter und singt. Immer wieder begleitet zustimmendes Lachen aus dem Publikum die Stimme des Sängers vorn auf der Bühne. Das Lied der Mocosos spricht an, was viele hier in Mataderos, einem der ärmsten Quartiers von Buenos Aires, empfinden: "Es ist die Ära des Shopping, des Lifting und des Loft/Und sie sprechen von Freiheiten zu Zeiten der Rezession / 20 Prozent beträgt die Arbeitslosigkeit / falls einer das nicht versteht / von zehn sind zwei ohne Job - Sie lügen, sie lügen", antwortet der Chor. "Sie halten kein Versprechen / Die Murga will Gesundheit und Freiheit / Arbeit, Gerechtigkeit und ein Leben in Würde."

In den Jahren der Diktatur ...


... sind insgesamt 230 Kinder verschwunden, die wir dank intensiver Recherchen oft erst nach Jahrzehnten wieder gefunden haben. Schauplatz jener abscheulichen Handlungen, die zum Verschwinden dieser Kinder führten, war die Escuela de Mecánica de la Armada (ESMA) - die Mechanikerschule der Kriegsmarine - ein attraktives, von blühenden Gärten umgebenes Gebäude im klassizistischen Stil am Nordrand von Buenos Aires. Im dritten Stock, im Krankenzimmer der ESMA, fanden die Geburten statt - das heißt, die Entbindungen schwangerer Häftlinge unter Mithilfe von Gefangenen. Die Babys wurden den wehrlosen Frauen wenige Stunden nach der Geburt weggenommen, die Mütter bald darauf ermordet. Ehepaare aus den oberen Rängen der Armeekaste nahmen die Neugeborenen auf, um sie zu adoptieren - zwecks "christlicher Erziehung", wie es im Jargon des Militärregimes hieß.
Aus einem Dossier der Menschenrechtsorganisation "Abuelas de Plaza de Mayo" vom August 1999.

Immer wieder wurden die Murgas wegen solcher Texte verboten, und während der Diktatur der Generäle Videla, Galtieri, Bignone und Nicolaides war es lebensgefährlich, nur an die Tradition dieses Straßenkarnevals zu erinnern. Aber was über Jahrhunderte nicht gelang, scheiterte auch diesmal. Die Murga wurde stärker denn je. Noch bevor 1983 die Militärjunta endgültig zusammenbrach, trafen sich in Nachbarschaftszentren heimlich die Murgueros.
"Als abzusehen war, dass sich die Generäle nicht mehr lange halten, konnte man von Woche zu Woche beobachten, wie Murgas neu entstanden", erinnert sich Tinti. Viele der alten Murgueros gab es nicht mehr, und die Jungen waren zu jung, um eine wirkliche Murga bewusst miterlebt zu haben. "Den ersten Murgas hat man angemerkt, dass den Murgueros die Erfahrung fehlt. Aber es war beeindruckend zu sehen, mit welchem Eifer die jungen Leute die Tradition wieder aufleben ließen." Heute gibt es über 100 Murgas in Buenos Aires. Die Stadt förderte sie seit 1997 sogar als kulturelles Erbe. Und inzwischen haftet dem längst nicht mehr das Stigma des Armen und Subkulturellen an. "Ich kenne noch einen Freund", lacht Tinti, "der damals in den Sechzigern ganz verliebt war in ein Mädchen. Aber nachdem ihn das im Frack der Murgueros gesehen hat, sprach es nie wieder mit ihm."
Der letzte Bomboklang ist verhallt, die Murga Los Mocosos de Liniers verabschiedet sich. Aber Leute stehen noch in Gruppen zusammen, wollen nicht nach Hause, zurück in den Alltag. Der Boden ist übersät mit Bechern und Flaschen. Tinti kann sich kaum aus den Umarmungen seiner Mittänzer befreien. Sie sind erschöpft, aber glücklich. Seinen Seidenfrack hat Tinti ausgezogen. Nun, im T-Shirt, wirkt er alt und zerbrechlich. Auch nach mehr als einer Stunde Tanz lacht er noch immer. "Das ist es eben, was die Murga hat: sie ist eine Kraft, die dich mitreißt, die das Herz zum Klang des Bombo schlagen lässt. Und so lange wir noch springen und lachen können, wird es auch Murgas geben." Und er verschwindet in der Menge, den rot-weißen Frack überm Arm.

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