Sex und sein Charakter

Angebot Ein Verbot der Prostitution würde vor allem die Freiheit der Frauen beschneiden. Zehn Thesen zur gegenwärtigen Debatte. Von Antje Schrupp
Ausgabe 48/2013

Prostitution ist keine Naturerscheinung

Von der Prostitution wird gerne behauptet, sie sei das älteste Gewerbe der Welt, was so viel bedeutet wie: Gab es immer, kann man gar nicht abschaffen. Das ist sowohl historisch als auch kulturanthropologisch falsch. Historiker haben längst überzeugende Zusammenhänge zur Entstehung der Prostitution aufgezeigt. Außerdem gibt es Gesellschaften, die Prostitution nicht kennen. Allerdings hat der koloniale westliche Blick in Kulturen, die ihm fremd waren, häufig soziale Beziehungen, die nicht dem Modell der monogamen heterosexuellen Ehe entsprachen, vorschnell als Prostitution eingeordnet. Es ist aber nicht sinnvoll, jede Vermischung von sexuellen und ökonomischen Beziehungsgeflechten als Prostitution zu bezeichnen. Das spezifische Charakteristikum von Prostitution ist, dass sexuelle Beziehungen als Ware gehandelt werden. Das können Gesellschaften so handhaben, sie müssen es aber nicht.

Prostitution ist vor allem eine Einkommensquelle

Prostitution ist, vor allem für Frauen, in erster Linie eine Möglichkeit, Einkommen zu erzielen. Die allerwenigsten Frauen wählen diese Tätigkeit aus Berufung oder weil sie Spaß am Sex mit beliebigen Männern haben – auch wenn das in Einzelfällen vorkommen mag. Vielmehr hängt die Attraktivität dieser Tätigkeit für die große Mehrheit der Prostituierten eng damit zusammen, welche anderweitigen Chancen sie haben, an Geld zu kommen. Für den regulären Arbeitsmarkt brauchen sie entweder Qualifikationen und Bescheinigungen, die sie vielleicht nicht beschaffen können, oder sie müssen auf Tätigkeiten ausweichen, die ebenfalls prekär, aber viel schlechter bezahlt sind. Alle Maßnahmen, die rund um das Thema Prostitution vorgeschlagen und diskutiert werden, müssen deshalb die Frage nach realistischen Einkommensmöglichkeiten, Arbeitsbedingungen und sozialer Absicherung ins Zentrum stellen.

Prostitution spiegelt soziale Ungleichheit

Prostitution ist aber nicht nur eine Frage des Einkommens, sondern auch eine der sozialen Herkunft. Frauen, die aus einem bürgerlichen Milieu stammen und sich diesem zugehörig fühlen, wählen nur sehr selten diese Tätigkeit – auch nicht in Lebensphasen, in denen sie wenig Geld haben, zum Beispiel während des Studiums oder wenn sie mal arbeitslos sind. Gleichzeitig ist aber die Debatte über Prostitution stark von einem bürgerlichen Blickwinkel geprägt, und zwar auf beiden Seiten: der Befürworter eines Verbots ebenso wie bei denen, die für eine Normalisierung von „Sexarbeit“ eintreten. Aber welche Vorstellungen, Sorgen und Wünsche haben Frauen aus den sozialen Schichten und Milieus, aus denen die große Mehrheit der Sexarbeiterinnen kommt? Möglicherweise ergeben sich dadurch ganz andere Anliegen und Perspektiven auf das Thema.

Gesetzliche Verbote beschneiden die Handlungsoptionen von Frauen

Gesetzliche Verbote und Regulierungen erschweren oder verunmöglichen es Frauen (und Männern), durch Prostitution Einkommen zu erzielen und beschneiden damit ihre Handlungsoptionen. Das ist der entscheidende Grund, warum solche Regulierungen abzulehnen sind. Wer sich dazu entschließt, Sex als Ware zu verkaufen, wird einen guten Grund dafür haben. Es ist herablassend, so zu tun, als wären Prostituierte nur zu uninformiert oder zu wenig selbstsicher, um einen anderen Weg zu wählen. Die Betroffenen kennen ihre eigenen Möglichkeiten und Ressourcen in der Regel sehr genau, und wenn sie sich für diese Tätigkeit entscheiden, ist das offensichtlich die beste Option, die sie angesichts der Realität, in der sie leben, haben. Wenn ihnen diese Möglichkeit genommen wird, sei es durch Verbote, durch fehlenden Schutz oder durch fehlende Infrastruktur, müssen sie logischerweise zur zweitbesten Option greifen, haben also konkrete Nachteile. Deshalb ist dieser Weg falsch.

Selbstbestimmte und erzwungene Prostitution existieren selten in Reinform

In der Debatte wird meist über zwei Extreme diskutiert: Die einen verweisen auf Zwangsprostitution und fordern ein generelles Verbot, die anderen auf selbstbestimmte Prostitution und fordern gesellschaftliche Akzeptanz. Doch in Wirklichkeit sind Fälle, in denen Frauen gegen ihren erklärten Willen von brutalen Menschenhändlern mit blanker Gewalt zur Prostitution gezwungen werden (was ohnehin verboten ist, wenn es auch nicht ausreichend verfolgt wird) eher selten. Und noch seltener sind wohl diejenigen Fälle, in denen Frauen aus reiner Passion Sexdienstleistungen verkaufen, obwohl sie eine Fülle von anderen Möglichkeiten hätten. Die übergroße Mehrheit bewegt sich in einer Grauzone zwischen Freiwilligkeit und Zwang, wobei sowohl ökonomische als auch soziale Faktoren eine Rolle spielen. Die Übergänge sind fließend, und einzelne Fälle finden sich auf jedem Punkt der Skala. Statt Freiwilligkeit und Zwang als gegensätzliches Entweder-Oder zu diskutieren, sollte das Augenmerk auf die Verwobenheit beider Aspekte gerichtet werden: Welche Umstände ermöglichen den betroffenen Frauen ein Mehr an Freiwilligkeit, und welche tragen dazu bei, dass die Frauen neuen Zwängen unterworfen werden?

Die problematischen Aspekte von Prostitution dürfen nicht kleingeredet werden

Auch wenn man aus guten Gründen ein Verbot der Prostitution ablehnt, sollte man doch nicht so tun, als wären die menschenfeindlichen Begleiterscheinungen des Gewerbes nur bedauerliche Ausrutscher und Nebenaspekte. Frauen, die in der Prostitution arbeiten, tragen ein hohes Risiko, körperlich und seelisch verletzt und ausgebeutet zu werden. Viele von ihnen werden Opfer von Gewalt. Diese strukturellen Zusammenhänge müssen gesehen und ernst genommen werden.

Wir sollten mehr über Freier nachdenken als über Prostituierte

Der Dreh- und Angelpunkt einer solchen Debatte wäre nicht die Motivation von Frauen (oder Männern), in der Prostitution zu arbeiten – die liegt ja völlig auf der Hand. Sondern worum es im Kern geht, ist die Motivation von Männern, sexuelle Dienstleistungen zu kaufen. Welche Bedürfnisse befriedigen sie, indem sie einem anderen Menschen Geld dafür bezahlen, mit ihnen Sex zu haben? Auch hier ist eine breite Palette von Möglichkeiten denkbar, und nicht alle sind gleichermaßen problematisch. So mag es Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen geben, denen es nur schwer oder gar nicht möglich ist, auf andere Weise einen Sexualpartner oder eine Sexualpartnerin zu finden. Oder auch Männer und Frauen, die den Wunsch nach sexuellen Praktiken verspüren, zu denen die Menschen in ihrem Umfeld nicht bereit oder in der Lage sind. Allerdings gibt es auch viele Männer, und sie sind die große Mehrheit der Freier, die sich tatsächlich Sex wünschen, bei dem ganz allein ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse im Zentrum stehen sollen. Und die dafür zwar eine reale, lebendige Frau zur Verfügung haben wollen (sonst könnten sie ja auch onanieren oder technische Hilfsmittel zum Einsatz bringen), deren Wünsche und Begehren dabei aber keine Rolle spielen sollen – in der Warenwelt ist der Kunde eben König.

Prostitution ist keine normale Arbeit

Die Gegnerinnen und Gegner eines gesetzlichen Verbotes von Prostitution argumentieren häufig damit, dass es sich hierbei doch um eine normale Arbeit handele, die ebenso betrachtet werden müsse wie andere möglicherweise ungeliebte Tätigkeiten. Ist nicht die Verkäuferin oder die Reinigungsfrau ebenfalls ökonomischen Zwängen unterworfen und würde vielleicht lieber etwas anderes tun? Sicher ist es prinzipiell möglich, Sex in diesem Sinn als Ware oder als Dienstleistung zu verstehen. Die Frage ist, ob wir das wollen. Normale Arbeit, also der Tausch von Arbeitskraft gegen Geld, beruht auf einem System der Arbeitsteilung. Der Käufer von Arbeitsleistungen hat entsprechend auch einen Anspruch auf einen äquivalenten Tausch. Wenn also die erbrachte Dienstleistung oder das bezahlte Produkt Mängel aufweist, kann es zurückgegeben werden. All das ist vertraglich geregelt, und es gibt Dritte, die in Konflikten darüber entscheiden. Es wirkt sich auf unsere kulturelle Vorstellung von Sexualität aus, ob wir sie als Ausdruck gegenseitigen Begehrens zwischen zwei (oder mehreren) Menschen verstehen oder als banale Dienstleistung, die ebenso wie das Putzen der Wohnung an professionelle Dritte outgesourced werden kann.

Prostitution gründet auf einer fragwürdigen Vorstellung von Sex

Das Phänomen Prostitution kann es also überhaupt nur in einer Kultur geben, für die Sex nicht die gegenseitige Lust aufeinander zur Voraussetzung hat, sondern einseitig denkbar ist. In der es als akzeptabel gilt, wenn jemand, der Sex haben will, die eigene Lust mit jemandem befriedigt, der oder die selber in dieser Situation eigentlich lieber keinen Sex haben will. Die zahlreichen patriarchalen Implikationen dieser Vorstellung sind offensichtlich. Sie baut auf der langen Tradition auf, wonach es auf das Begehren der Frau nicht ankomme. Früher ging man ohnehin davon aus, dass sexuelle Lust bei Frauen eine medizinische Anomalie sei, und heute ist die Idee verbreitet, die einzige Vorbedingung für legitimen Sex wäre „Consent“, also Einwilligung. Das ist aber etwas anderes als Begehren. Für Sex, der wirklich als gegenseitiges Geschehen verstanden wird, also als etwas, das zwei (oder mehr) Menschen miteinander tun möchten, reicht „Consent“ nicht aus. Es braucht beiderseitiges Begehren. Die Abkopplung sexueller Handlungen vom (weiblichen) Begehren ist eine der Wurzeln patriarchaler Kultur, und sie liegt auch allen Debatten über Prostitution zugrunde.

Mehr Möglichkeiten für Frauen schaffen

Diese kulturellen Debatten über den Charakter von Sex müssen geführt werden, aber nicht zulasten von Frauen, die durch Prostitution Geld verdienen. Hier braucht es kurzfristige Maßnahmen, die die Situation der Betroffenen substanziell verbessern. Prostitution wieder in die Illegalität zu verdammen, ist der falsche Weg, nicht nur, weil es die Handlungsoptionen für diese Frauen verringert, sondern auch, weil es den Zugang zu Hilfsstrukturen, Beratungseinrichtungen und Selbstorganisation erschwert. Je mehr Handlungsoptionen und Einkommensmöglichkeiten eine Gesellschaft Frauen zur Verfügung stellt, und zwar vor allem denen, die wenig Bildungschancen oder soziale Ressourcen haben, umso größer wird der Spielraum für diese Frauen, den Aspekt der Freiwilligkeit in ihren Lebenswegen zu verstärken.

Antje Schrupp ist Journalistin, Politologin und Philosophin. Sie promovierte über Frauen in der „Ersten Internationalen“ und hält Vorträge zu den Themen Arbeit, Gender, Politik und Religion. Ihr Blog antjeschrupp.com heißt Aus Liebe zur Freiheit. Notizen zur Arbeit der sexuellen Differenz

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