In der Ellbogengesellschaft

Eventkritik Im Willy-Brandt-Haus diskutierte Günter Grass mit SPD-Chef Sigmar Gabriel über Geschichte, Sprache und alles, was „sonst noch politisch ansteht“

Das Willy-Brandt-Haus in Berlin, dieser in der Wilhelm-Straße gelegene SPD-Dampfer, wird an diesem Samstagabend bis auf den letzten Platz mit Menschen gefüllt. Sie kommen, um den langjährigen SPD-Unterstützer und Schriftsteller Günter Grass aus seinem neuen Buch Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung lesen zu hören. Darin geht es um die deutsche Sprache, Deutschland, die Brüder Grimm und natürlich um Günter Grass. Aber irgendwie geht es an diesem Abend auch um ein Stück sozialdemokratische Geschichte.

Die Besucher quetschen sich unter Stöhnen und Fluchen durch die Eingangsschleuse. Es gibt Wortgefechte. Besonders egoistische Grass-Interessenten drängeln sich rücksichtslos vor, weswegen die Weißhaarigen, die mit Ketten-aus-Korallen-Behängten, die Rauschebärte, die also in der Mehrzahl studierten und älteren Herrschaften einige Male sehr explizit werden müssen („Das ist total asozial von Ihnen“). Einer behauptet sogar, mutwillig von einem Ellbogen traktiert worden zu sein und es fällt dann auch tatsächlich das Wort „Ellbogengesellschaft“.

Rote Sessel, rote Schals

Hat man den Kampf an der Schleuse gewonnen, steht man im Innenraum des Willy-Brandt-Hauses: ein Dreieck, hochgeschossig, viel Glas. An der Spitze des Dreiecks ist die Bühne aufgebaut, auf der Grass lesen und anschließend mit dem SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel „über Demokratie, Geschichte, Sprache und was sonst noch politisch ansteht“ (Einladung) diskutieren soll. Auf der noch leeren Bühne rote Sessel, rote Schals, Erkennungszeichen sozialdemokratischer Folklore. Darum herum wedeln Presseorganisationsfrauen, Journalisten, Fotografen und Sicherheitsmänner, die über die Einhaltung der Absperrungen wachen. Einigen Privilegierten sind Plätze in der ersten Reihe vorbehalten. Das normale Volk schart sich stehend, mitunter auf dem Boden sitzend, um das Rednerpult, von dem Grass zu ihm sprechen soll. Der erscheint nach einigen Minuten Verspätung, eskortiert von Sigmar Gabriel.

Kurz bevor die beiden die Bühne betreten, raunt Gabriel Grass zu, wenn er öfter käme, würde die SPD auch mehr Prozente schaffen. Diesen selbstironischen Gag findet Gabriel dann so gut, dass er ihn gleich in seine Eröffnungsrede bastelt. Er lobt Grass, den Citoyen, den teilnehmenden Intellektuellen, der es sich mit der SPD nie leicht gemacht, ihr aber auch immer geholfen habe, wenn es darauf angekommen sei. In standardisierter Politiker-Sprache geht die Rede ­weiter, vorgetragen in standardisierter Politiker-Intonation mit dramatischen Stimmen-Hochs und -Tiefs: ein freies Leben, Gerechtigkeit und gute Bildung – das sind die SPD-Ziele. Kann man nichts dagegen sagen. Grass sitzt in der ersten Reihe und folgt mit nachdenklicher Miene dem Lobgesang. Dann betritt er die Bühne. Auf dem Rednerpult steht ein Rotweinglas für ihn bereit. Die Kameras klackern.

Die Publikums-Köpfe recken sich nach dem Nobel-Preisträger-Kopf, dessen lebendige Vorlese-Stimme eine wirklich erweckende Abwechslung zu der Stimme von Gabriel ist. Vielleicht kann ja der Grass dem Gabriel mal das Vortragen beibringen, denkt man und lauscht Grass, der davon berichtet, wie er einst Willy Brandt das Reden-Schreiben und das Ich-Sagen beibrachte. Entlang des Alphabets navigiert Grass durch seine Geschichte, Deutschlands Geschichte und die der Gebrüder Grimm.

Dabei gibt es erneut Ausschreitungen unter den Zuhörern, die sich gegenseitig der Rücksichtslosigkeit bezichtigen. Eine Dame mit weißem Kurzhaarschnitt beginnt von ihrem mitgebrachten Klappstuhl aus, Menschen, die sich in ihrem Sichtfeld aufhalten, anzuzischen und lautstark zum Gehen aufzufordern. Die Grass-Interessenten sind durchweg auf ihren Vorteil bedachte, soziale Kälte verbreitende Menschen, kommt man nicht umhin zu denken, während sich oben auf der Bühne die beiden Kapitäne zusammenfinden, um über Deutschland und „was sonst so ansteht“ zu diskutieren.

Der deutsche Moral-Kapitän, ach was, der Kapitän der deutschen Geschichte und der SPD-Kapitän lassen sich auf den roten Sitzgelegenheiten nieder. Gabriel liegt entspannt im SPD-Sessel und sagt allerlei politische Sätze die deutsche Sprache, Integrationsfragen und überhaupt alles betreffend. Das Tolle an Gabriel sind ja so gelegentlich locker hingeschmissene Sätze wie: „Es ist doch Quatsch, wenn einer wie ich auch noch Kindergeld bekommt.“ Oder: „Jetzt mal im Ernst, ey.“ Da mag man ihn, denkt man kurz, hört aber sofort wieder damit auf, wenn man daran denkt, dass hinter seiner Ey-und-Quatsch-Rhetorik das Interesse steht, als „einer von uns“ zu gelten.

Demokratie! Bildung! Applaus

Grass sagt, wenn er sich frage, ob er es in Deutschland noch aushalte, halte ihn die deutsche Sprache hier. Gabriel sagt, ja, die deutsche Sprache sei wichtig für die Inte­gration. Durch die Sprache finde man auch Zugang zur Kultur und so. Grass: Geduld! Es gebe außerdem ganz andere Parallelwelten, etwa das Bankwesen. Applaus im Publikum. Grass und Gabriel sind sich einig, dass der Lobbyismus die deutsche Demokratie gefährde. Applaus. Grass meint, Misstrauen der Bevölkerung sei einer der Hauptgründe für Wahlmüdigkeit. Applaus. Gabriel will mehr Demokratie wagen, auch direkte. Applaus. Mindestlohn! Applaus. Bildung! Applaus. Zunehmende Spaltung zwischen Politikern und Volk. Applaus!

Gabriel, so gibt er bekannt, sei es jedenfalls egal, wenn die SPD durch die Auseinandersetzung mit Sarrazin Stimmen verliere. Applaus. Der Moderator richtet an Grass die Frage, warum es keine politischen Literaten mehr gebe. Grass antwortet, es liege daran, dass sie sich nicht trauen würden, sich zu äußern, aus Angst, ähnlichen Presseanfeindungen ausgesetzt zu sein, wie er sie erleben musste. Am Schluss wünscht sich Gabriel mehr junge Günter Grasse für Deutschland. Nochmal Applaus, dann ist es vorbei. Vor der Garderobe drängeln die Zuhörer und schnappen sich gegenseitig das Personal weg.

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