Nirgends auf der Welt wird am weiblichen Körper mehr herumoperiert als in Südkorea. Im Land mit der höchsten Quote von Schönheitsoperationen pro Einwohner gilt ein makelloses Aussehen als Grundvoraussetzung für den beruflichen und privaten Erfolg. Diese Obsession mit dem Körper hat auch im Werk der südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang ihre Spuren hinterlassen. Der Roman Die Vegetarierin, für den sie 2016 den internationalen Man-Booker-Preis gewann und der sie schlagartig berühmt machte, erzählt die Geschichte einer Frau, die sich ihrer Körperlichkeit völlig entledigt, auch um sich in letzter Konsequenz dem männlichen Blick zu entziehen. In dem jetzt auf Deutsch erschienenen Roman Deine kalten Hände geht es wieder um diesen männlichen Blick. Diesmal gehört er dem Bildhauer Jang Unhyong. Unhyong ist Mitte 30 und lebt eine eigenbrötlerische Künstlerexistenz in Seoul. Er formt Gipsplastiken des weiblichen Körpers. Die künstlerische Motivation für die Gipsplastiken, das lernt der Leser während einer Rückblende, liegt in seiner Kindheit. Das falsche Lächeln seiner Mutter lehrte ihn, dass Erwachsenwerden bedeutet, das Spiel mit den Masken zu beherrschen. Bereits als kleiner Junge fühlte er sich von seiner Familie entfremdet, ein Gefühl, das ihn seitdem begleitet und dem er mit den Plastiken Herr zu werden versucht.
Als Künstler beginnt Unhyong Abdrücke von Frauenhänden zu nehmen. Während Gesichter die Maskerade perfektioniert haben, können Hände, davon ist Unhyong überzeugt, nicht lügen. Bei einer Ausstellung begegnet er einer jungen Frau namens L., deren Hände für Unhyong eine heilige Qualität haben. L. ist stark übergewichtig und wird Unhyongs untypische Muse. Die beiden kommen sich nahe. Nachdem L. Unhyong aufgefordert hat, einen Abdruck von ihrem gesamten Körper zu nehmen, erzählt sie ihm, wie sie als junges Mädchen von ihrem Stiefvater immer wieder vergewaltigt wurde und daraufhin mit dem Essen begann. Die Kilos wurden ihr Schutzschild gegen die Übergriffe. Eine Maske, für die sie einen hohen Preis zahlt. Die Blicke, die ihr Körper in den Straßen Seouls auf sich zieht, sie reichen von Ekel bis Abscheu.
Es ist eine quälende Geschichte, die Han Kang hier protokollartig niederschreibt. Ihr Stil ist fast lapidar und wirkt stellenweise ein wenig entrückt. Trotz aller beschriebenen Intimität bleiben die Beziehungen, die Han Kang in Deine kalten Hände schildert, von Kälte durchzogen. Echte Nähe? So etwas erscheint in Han Kangs Romanwelten als naive Vorstellung. Unhyong, der von L.s Körper zwar fasziniert ist, nutzt ihn letztlich aber doch nur als Objekt für seine künstlerische und persönliche Obsession. Das Interesse an L. ist nichts anderes als das Interesse an einer ungewöhnlichen Maske. Leider erschöpft sich der Roman hier in der ewigen Wiederholung der Maskenmetapher und folgt dem immer gleichen Narrativ eines gebrochenen Inneren, das sich gegen eine schönheits- und normierungsverliebte Gesellschaft behaupten muss. Die Frauen durchschauen die Heuchelei und beherrschen sie gleichzeitig perfekt.
Dein Gesicht war mal lebendig
So auch E., die attraktive Innenarchitektin, die eine der Plastiken Unhyongs kaufen möchte und deren Schönheit Maske für ein tief traumatisiertes Inneres ist. Es ist ein Handlungsstrang zu viel, der dem Buch die Ambivalenz nimmt, die Han Kangs Vegetarierin zu einem Meisterwerk gemacht hat. Trotzdem entfaltet Deine kalten Hände eine enorme Kraft. Die Beanspruchung des weiblichen Körpers durch die Allgemeinheit erfolgt durch dessen stetige und penible Vermessung. Jedes Kilo zu viel oder zu wenig erregt Aufmerksamkeit, jede Abweichung wird kommentiert, Mimik und Gestik bis ins letzte Detail analysiert. „Ohren, Nase, Mund und Augen hatten früher auch nett ausgesehen. Bei der jetzigen Figur kamen sie zwar besser zur Geltung, aber ihr Gesicht war nicht mehr lebendig.“
Es ist ein Blick, dem nichts entgeht und der in seiner akribischen Strenge an den kritischen Blick einer Frau auf den eigenen Körper oder den anderer Frauen erinnert. Es ist ein taxierender, männlicher Blick, den viele Frauen übernommen haben. Die daraus resultierende Selbstkasteiung ist längst normalisiert. In der nüchternen Schilderung dieser gesellschaftlichen Schattenseite, über die wir Tag für Tag lächelnd hinwegsehen, liegt Han Kangs großes Talent.
Info
Deine kalten Hände Han Kang Kyong-Hae Flügel (Übers.), Aufbau 2019, 312 S., 22 €
Kommentare 4
die debatte um die modellierung des weiblichen körpers
(und die des männlichen,stichwort: muskel-panzer)
ist unter: wiki--->körpersozialisation.
systematisch eingeordnet.
🎈Es ist ein taxierender, männlicher Blick, den viele Frauen übernommen haben.🎈
Ambivalenz. Eine grundsätzlich positive Eigenschaft, die einen kritisch und nachsichtig machen sollte. Die sich, wie man sieht, auch leicht gegen einen selbst richten kann. Man sollte besser ambivalent gegenüber der Ambivalenz sein.
Warum (mal wieder) der implizite Vorwurf an die Männer für deren "taxierenden" Blick? Und dann auch noch, dass Frauen ihn übernommen haben, um sich letztlich selbst damit zu quälen?
Genderkram. Mal wieder. Schade eigentlich, denn das Thema und die Autorin haben mir zunächst gut gefallen. Jetzt bleibt ein schaler Nachgeschmack.
Wann übernehmen Frauen endlich einmal Verantwortung für sich selbst? Sollte man gerade von den Genderinnen doch eigentlich erhoffen können, oder?🤶
Das Sujet klingt sehr vielversprechend. Ob der Roman das Versprechen einlösen kann, darüber könnte nur die Lektüre Auskunft geben. Aber die Rezension macht Lust auf den Text. Ob die Urteile der Rezensentin richtig sind, kann natürlich auch nicht ohne Lektüre beurteilt werden.
Der Roman scheint den Vorgängerroman „Die Vegetarierin“ fortzusetzen oder zu variieren. Ganz unabhängig davon, wie gut es ihm gelingt, muß gewürdigt werden, daß er leistet, was heutzutage nur wenige Literatur auf dem Schirm hat – dem kritischen Anspruch an Kunst zu genügen, das Nichtidentische zur Sprache zu bringen, und dadurch den Wahnsinn der Normalität aufblitzen zu lassen.
Der Körper als Maske, die Formulierung beschreibt treffend, was in diesen unseren Zeiten des vorgeblichen Hedonismus und der Huldigung des Körpers tatsächlich von der ach so aufgeklärten Wertschätzung des Körpers zu halten ist. Der Körper und der Sinnengenuss sind auch nur ein „Must have“. Der Körper soll gar nicht „sein“ und erlebt, betätigt und genossen werden, er soll, entsprechendes Styling und damit Codierung vorausgesetzt, nur etwas „bedeuten“.