Es ist ein Unterfangen, das leicht scheitern kann. Eine der vielleicht größten Tragödien unserer Gegenwart zu erzählen und sie mit dem Banalsten, Alleralltäglichsten zu vermengen. Diese Tragödie, von der die in New York lebende mexikanische Autorin Valeria Luiselli in ihrem neuen Roman erzählt, heißt Migration. Sie erzählt von den Tausenden Kindern, die sich in den letzten Jahren von Zentralamerika gen Norden aufgemacht haben – und auf was sie dort gestoßen sind. Auf eine Grenze, die auch ohne Mauer längst unpassierbar geworden ist, auf ein Justizsystem, das sie schnellstmöglich wieder dahin schicken will, wo sie hergekommen sind, und auf eine politische Rhetorik, die sich ihrer Schicksale für die billige Befeuerung von populistischer Propaganda bedient. Im Archiv der verlorenen Kinder geht die namenlose Protagonistin auf die Suche nach den Kindern, die auf dem Weg in die USA verloren gegangen sind. Gleichzeitig begibt sie sich mit ihrer eigenen Familie auf eine Reise ins amerikanisch-mexikanische Grenzgebiet, um zu verstehen, was ihnen in dem vor sich hin schnurrenden New Yorker Alltag abhandengekommen ist.
Normalität in New York
Es ist die große Leistung Luisellis, dass die beiden Erzählstränge niemals als Gratwanderung an den Rändern zum schlechten Geschmack empfunden werden. Die New Yorker Normalität der Patchworkfamilie ist kein Hilfsmittel, um sich dem eigentlich viel größeren und wichtigeren Thema zu nähern. Es ist eine für sich genommen schon bewegende Geschichte, die fast beiläufig das Konstrukt Ehe seziert und sich mit der Frage beschäftigt, wie man das alles eigentlich auf die Reihe bekommen soll: als Frau ein intellektuelles Leben leben, glücklich sein, Kinder aufziehen, nebenbei Beziehungspflege betreiben. Von der ersten Seite an lauert zwischen den Zeilen der Verdacht, dass die Schicht unserer Normalität, auf der wir jeden Tag gedankenverloren rumstapfen, ziemlich dünn ist. Es ist dann auch diese Vorahnung, die sich im Laufe des Buches erhärtet und die beiden Ebenen – Familie und Flüchtlingskrise – zusammenhält. Was für die Gesellschaft als Ganzes zutrifft, findet seine Entsprechung hier auch in der Familie. Die Probleme beginnen da, wo man damit konfrontiert wird, dass die eigene Realität nicht zwangsläufig die des anderen ist und dass das, was man zu besitzen glaubt, einem sehr schnell verloren gehen kann. Die Reaktionen darauf können unterschiedlich ausfallen und reichen von Angst über Abschottung bis hin zu Ressentiment. Luisellis Protagonistin aber reagiert anders. Sie will verstehen, was passiert ist: Warum ihr Mann sich von ihr entfernt hat und sie sich von ihm und sowieso von der Gesellschaft als Ganzes, in der sie alle doch eigentlich so gut leben.
Der Prozess dieses Verstehens ist ein nicht selbst gewählter Aufbruch zur Reise. Ohne Vorankündigung erklärt ihr Mann, er müsse für ein Dokumentationsprojekt in die Apachen fahren. Vor die Wahl gestellt, ihm dabei zuzusehen, wie er aufbricht, oder selber einfach mit aufzubrechen, entscheidet sich Luisellis Protagonistin dafür, die beiden Kinder einzupacken und mitzufahren. Und so sitzt die Familie auf einmal im Auto nach Südwesten, um etwas hinterherzujagen, das es nicht mehr gibt – jeder auf seine Weise. Ein bisschen so wie auseinanderstrebende Planeten, die ihre vorgesehene Umlaufbahn verlassen haben, gefangen in einem alten Volvo.
Der zehnjährige Sohn bringt dieses Unterfangen irgendwann auf den Punkt: „Denn obwohl wir die ganze Zeit im Auto nah beieinandersaßen, war es wie das Gegenteil von Zusammensein. Pa schaute immer auf die Straße, Ma schaute auf die Karte auf ihrem Schoß (...).“ Während der Volvo also Richtung Arizona rollt, erfahren wir, wie es zu dieser Hauruckaktion gekommen ist, welche Dynamiken und Muster die Beziehung in Schieflage gebracht haben. Wir erfahren auch, dass die Protagonistin in New York einer mexikanischen Frau dabei geholfen hat, für ihre beiden Töchter ein Visum zu beantragen, und dass diese Töchter jetzt aus einem Detention Center verschwunden sind. Dabei vollzieht die Erzählung eine Entwicklung vom Familiären hin zum Politischen. Die Migration nimmt immer mehr Raum und Gedanken ein, während man sich ihr geografisch nähert.
Luiselli erzählt diese Geschichte nicht einfach chronologisch herunter, sie webt sie zusammen mit Exkursen quer durch die Literaturgeschichte, Referenzen von Ezra Pound über Rebecca Solnit bis Alice Munro. Dass das nie überfrachtet klingt, liegt an einem stilistischen Kunstgriff der Autorin. Immer wieder lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die Geräusche, Stimmen und Liedtexte, welche die Welt der Familie bevölkern – von David Bowies Space Oddity über die Schnarchgeräusche der Tochter bis zum Knarzen der Autoreifen auf heißem Asphalt. Damit orientiert sie sich an der Weltwahrnehmung ihrer Protagonisten, die beruflich bedingt, durchaus speziell ist. Die sind keine klassischen Hörfunkjournalisten, sondern Audio-Dokumentare, und sie ähneln in ihrer Verschrobenheit damit dem Typ Dokumentarfilmer, der Filme über so ephemere Phänomene wie Nebel macht. Nur, dass sie nicht mit einer Kamera hantieren, sondern mit sperrigen Tonangeln in der Wüste rumstehen und stoisch versuchen aufzunehmen, was einmal da war. Für den Mann ist es die vergangene Welt der Apachenhäuptlinge, für die Frau sind es die in der Wüste ums Leben gekommenen Kinder.
Gesagtes, Gehörtes, Gedachtes schichtet Luiselli gekonnt aufeinander. Heraus kommt eine fast schmerzvolle Gegenwartsverdichtung. Ihre stilistischen Exkurse erinnern an Autorinnen wie Rachel Cusk oder Olivia Laing, mit dem Unterschied, dass Luisellis Autofiktion über die eigene Subjektive hinausgeht. Die Referenzen zu ihrer eigenen Biografie sind zahlreich. Luiselli hat für ein New Yorker Gericht ehrenamtlich als Übersetzerin für minderjährige Geflüchtete gearbeitet. Diese Erfahrung hat sie bereits 2017 in dem Essayband Tell me how it ends. An Essay in 40 questions verarbeitet. Die Wut über das amerikanische Immigrationssystem musste erst raus, bevor sie diesen Roman schreiben konnte. Der ist auch ohne die Wut ein wichtiger politischer Roman über die Gegenwart.
Info
Archiv der verlorenen Kinder Valeria Luiselli Brigitte Jakobeit (Übers.), Kunstmann 2019, 432 S., 25 €
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