Von Skepsis inspiriert

Kunst Flávio de Carvalho ist eine umstrittene Figur der brasilianischen Moderne. Für Berlin ist er Impulsgeber
Ausgabe 40/2020

Wie kann es sein, dass ein toter weißer Mann, der zu Lebzeiten einen Ruf als Womanizer genoss, zum Impulsgeber einer Biennale wird, die unter anderem das „Patriarchat im weitesten Sinne entwaffnen“ will? So zumindest formulierte es die Kuratorin María Berríos im Gespräch mit dem Kunstmagazin Monopol vor einigen Wochen. Berriós ist eine von vier Kurator*innen der diesjährigen Berlin Biennale. Vier, die dezidiert nicht als Kollektiv verstanden werden wollen. Gemeinsam haben Renata Cervetto, Lisette Lagnado, María Berriós und Agustín Pérez Rubio den Rahmen der 11. Biennale geweitet und bereits vor einem Jahr mit der Arbeit begonnen. Laboratorium statt Ausstellungsspektakel – so lautet ihr Ansatz, der sich nun seit einem Jahr der Öffentlichkeit graduell offenbart.

Der Geist des brasilianischen Künstlers, Architekten, Schriftstellers und Performers Flávio de Carvalho ist mit im Gepäck der Kurator*innen über den Atlantik gereist und wandert seitdem in Berlin umher. So sind die einzelnen Ausstellungsphasen der Biennale in „Experiences“, Erfahrungen, eingeteilt. Eine Anlehnung an den von de Carvalho geprägten Begriff der „Experiências“, den er für seine Performances seit den 1930er Jahren benutzte. Warum nun genau diese Begriffe strukturgebend sind, um Fragen der Gegenwart zu verhandeln, erschließt sich nicht sofort. Das liegt auch daran, dass de Carvalho in Europa kaum jemandem ein Begriff ist. Der Rückgriff auf ihn ist also ein subtiler Kniff der Kurator*innen in den stets mit sich selbst beschäftigten, weichen Wohlstandskörper Europas.

Wer also war dieser Flávio de Carvalho? 1899 in Barra Mansa, Brasilien geboren, ausgebildet als Ingenieur und bildender Künstler in England und Frankreich, arbeitete er nach seiner Rückkehr nach Brasilien als Architekt, wurde 1939 für den Literaturnobelpreis nominiert und ist heute vor allem für seine Performances bekannt, von denen ihm eine fast das Leben gekostet hätte. Überliefert ist die Geschichte so: An Fronleichnam beobachtet de Carvalho aus seinem Studio heraus eine Prozession auf der Straße. Der Anblick des andächtig marschierenden Menschenstroms provoziert in ihm eine Frage: Wen respektieren die Menschen mehr, das Gesetz oder Gott? De Carvalho tritt der Prozession entgegen, läuft inmitten des Menschenstroms in die entgegengesetzte Richtung, und das nicht ohne die Gläubigen mit seinem eindringlichen Blick und einem Hut zu provozieren. Am Ende hat er die Gruppe so sehr gegen sich aufgebracht, dass aus den friedlichen Gläubigen ein Lynchmob wurde. De Carvalho, der nun um sein Leben bangt, flüchtet sich in ein umliegendes Café. Verarbeitet hat er das Erlebnis in einem Buch, in dem er, beeinflusst von den Texten Freuds, seine eigene Psychologie der Massen entwirft. Auch seine „Experiência Nº 3“ folgt einem ähnlichen Muster. Diesmal bringt er nicht Kleriker, sondern das Patriarchat gegen sich auf, indem er den Minirock zum Kleidungsstück des neuen Mannes deklariert und damit fröhlich durch São Paulo flaniert. De Carvalho war unzeitgemäß im besten Sinne. Für die Kuratorin Lisette Lagnado ist es aber vor allem seine Skepsis gegenüber Normen und mobilisierten Menschenmengen, die ihn als Impulsgeber interessant macht. Welche Kraft geht von versammelten Körpern aus und welche Dynamiken stecken hinter ihrer Mobilisierung? Für Lagnado sind das zentrale Fragen der Gegenwart, die de Carvalho in seinen Arbeiten immer wieder aufgegriffen hat. Den Transfer in die Gegenwart müssen auf der Biennale dann aber andere leisten. Jüngere, lebendigere und, ja, auch feministischere Künstler*innen.

Er ist keiner von den Guten

Am deutlichsten nimmt das brasilianische Theaterkollektiv Teatro da Vertigem auf de Carvalho Bezug. Statt als Einzelner gegen eine Prozession zu laufen, schiebt sich in der Videoarbeit des Kollektivs eine endlose Autokolonne im Rückwärtsgang durch das nächtliche São Paulo. Eine gigantische Performance, die im August 2020 in ganz Brasilien Schlagzeilen machte. Am Ende spielt ein Schwarzer Musiker die brasilianische Nationalhymne rückwärts, während sich im Hintergrund eine Zeichnung von de Carvalhos sterbender Mutter entrollt. Brasilien liegt im Sterben und ein Teil der Bevölkerung wünscht sich, die Zeit könne zurückgedreht werden – so einfach, so eindrucksvoll.

Es bleibt dennoch die Frage, ob sich der einstige Tausendsassa als inoffizieller Schirmherr einer Biennale eignet, die ja vor allem eines will: vielfältige Gegennarrative schaffen, aufräumen mit der dominanten Handschrift eines starken, männlich geprägten, weißen Westens, der die Welt über Jahrhunderte nach seinem Gusto prägte. „He is not a good one“, „er ist keiner von den Guten“, so mahnte der Wissenschaftler und Künstler Marcelo Moreschi in seinem Vortrag in den Räumen von ExRotaPrint im Herbst 2019 an. De Carvalhos Blick auf das Volk sei oft herablassend, er selbst nicht frei von Hybris gewesen. Und damit ist man zwangsläufig beim Thema der Biennale aus dem Jahr 2018: „We don’t need another hero“, „Wir brauchen nicht noch einen Helden.“ Auch in dieses Jahr scheint das Motto hineinzuwirken. Es wäre verlockend gewesen, de Carvalho zum Helden zu machen, stattdessen wurde er zu einem interessanten Fährtenleger umfunktioniert. Auf dessen Spuren lässt sich diese in Teilen etwas zusammengewürfelt wirkende Biennale gut erkunden.

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