Gut Start, Stuttgart!

Theater Burkhard C. Kosminski tritt die Schauspiel-Nachfolge von Armin Petras an. Mit „Vögel“ will der gebürtige Schwabe eine neue Ära einläuten
Ausgabe 48/2018

Was ist ein Migrant – ein Mutant? Wenn alle Menschen aus denselben 46 Chromosomen bestehen, warum entwickeln wir uns so unterschiedlich? Warum wird einer zum Ziervogel, die andere aber zum Unglücksraben? Wer oder was bestimmt unsere Identität? Ist es unsere Sprache, Religion, Erziehung oder sind es die Traumata der Kriege? Diese Fragen durchziehen Wajdi Mouawads Stück Vögel, und der Autor, der als Kind selbst aus dem Libanon flüchtete, dekliniert sie in ausschweifenden Monologen. Burkhard C. Kosminski hat mit der deutschen Erstaufführung des Werks seinen Einstand am Schauspiel Stuttgart gegeben und will das programmatisch verstanden wissen. Als Bekenntnis zu einer Stadt, in der mehr als 44 Prozent der Menschen Migrationshintergrund haben, lässt er den Text von einem internationalen Ensemble in vier verschiedenen Sprachen performen: in Hebräisch, Arabisch, Englisch und auch ein bisschen auf Deutsch.

Eitan, ein junger Berliner, gespielt von Martin Bruchmann, hat eine klare Vorstellung von der Welt. Er ist Biogenetiker und Jude, er glaubt an die Macht der DNA, nicht an die der Erbschuld. Über Liebe und Schicksalsschläge geben Chromosomen keine Auskunft, erst recht nicht über Auschwitz. Für seine Liebe zu Wahida (Amina Merai), einer amerikanischen Studentin mit arabischen Wurzeln, macht er deswegen auch nicht das Schicksal, sondern den Urknall verantwortlich.

Ihre erste Begegnung in einer New Yorker Bibliothek gerät zu einem heiteren Vortrag über die Wahrscheinlichkeit des Zufalls, den es in der Welt des Genetikers eigentlich gar nicht geben darf. Was als intellektuelle Romeo-und-Julia-Story beginnt, weitet sich mehr und mehr zu einer Tragödie von antikem Ausmaß. Denn vor dem Hintergrund des dauerschwelenden Nahostkonflikts ist der Taumel im Glück, in dem Raum, Zeit und Herkunft keine Rolle spielen, rasch verpufft.

Natürlich Psychotherapeutin

Eitans und Wahidas Liebe ist von unzähligen Grenzen bedroht: Da stoßen nicht nur die Überzeugungen des Genetikers auf die der Kulturwissenschaftlerin – es sind vor allem die familiären Traumata, die das Glück zersetzen. Eitans Vater David, Kind eines Schoah-Überlebenden – Itay Tiran spielt ihn als religiösen Fanatiker und Rassisten – stuft die Liebe seines Sohnes zu einer Muslima gleich als Vatermord ein. Diesem ödipalen Deutungsmuster folgt auch Eitans Mutter Norah (Silke Bodenbender), die – natürlich – Psychotherapeutin ist. Als DDR-sozialisiertes Kind wurde sie von kommunistischen Eltern gezwungen, ihr Judentum zu verleugnen. Jetzt begreift sie die Liebe ihres Sohnes als Anschlag auf den eigenen Lebensentwurf. Dünne weiße Papierwände (Bühne: Florian Etti) schweben von der Decke herab – markieren Orts- und Szenenwechsel und die Fragilität der Identitäten darin. Mal zeigen sie die New Yorker Bibliothek, dann ein Krankenzimmer in Tel Aviv, in dem der nach einem Anschlag schwer verwundete Eitan liegt, schließlich markieren sie die Umrisse eines Checkpoints, wo eine israelische Soldatin (Maya Gorkin) Wahida vergewaltigt. Dieselbe Soldatin hilft Wahida später, zu ihrer palästinensischen Familie zurückzukehren. Die kurze Szene zeigt, wie willkürlich Grenzen gezogen werden, wie doppeldeutig und brutal deren Überschreitung und Schutz sind.

Inzwischen haben sich die weißen Trennwände in Projektionsflächen für die deutschen Übertitel der Dialoge verwandelt, die je nach Situation vom Englischen ins Hebräische oder Arabische kippen. Der Text wird so zum zentralen Akteur – um den sich sprichwörtlich alles dreht: Die frisch reparierte Drehbühne wird zu Kosminskis bestem Komplizen, größtmögliche Distanz zwischen die Regietheater-Ära seines Vorgängers Armin Petras und den eigenen neuen Autorentheater-Realismus zu bringen.

Unter all der Wortgewalt zerbröselt aber die Glaubwürdigkeit der Figuren, die seltsam konstruiert wirken. Kosminski verschenkt das Potenzial seiner Schauspieler und lässt sie über weite Strecken ziemlich hilflos an der Rampe agieren – Deklamationsautomaten, die den Wortmassen kaum hinterherhecheln können und leider viel zu oft der Versuchung erliegen, Bedeutungsschwere mit zusätzlichem Pathos anzureichern, anstatt Brüche und Ironie aufzuspüren. Dass man mehr aus dem Text hätte holen können, zeigen die wenigen Momente, in denen die Spieler den schwülstigen Ton abstellen. Wie Itay Tiran, der die gute Stimmung beim Pessach-Fest mit unversöhnlicher Schärfe boykottiert und in grollendem Hebräisch einen Schlagabtausch der Ideologien einläutet. Oder Silke Bodenbenders Norah, die einem Patienten, der Bilder mit eigenem Sperma malt, trocken zum Gentest rät – um den Marktwert zu steigern.

Zu Publikumslieblingen werden Dov Glickman und Evgenia Dodina als ungleiches Großelternpaar Etgar und Leah. Sie schleudert ihre Ansichten mit beißendem Sarkasmus über die Bühne, er beschwichtigt mit jiddischem Witz. Beide lüften am Ende ein streng gehütetes Geheimnis, das das mühsam zusammengehaltene Familiengebäude vollends sprengt: David, der so fanatisch seinen jüdischen Glauben propagiert, ist in Wahrheit ein palästinensisches Findelkind. An dieser Lebenslüge ist nicht nur die Ehe der Großeltern zerbrochen, sie kostet auch David das Leben. Wahida soll ihm am Totenbett noch einmal die arabische Muttersprache einflüstern, wofür Mouawad eine historische Legende auferstehen lässt – Al-Hasan Al-Wazzan (Ali Jabor), einen marokkanischen Diplomaten aus dem 16. Jahrhundert, der, um sein Leben zu retten, vom Islam zum Christentum konvertierte. In einer Traumsequenz geleitet Wazzan David ins Jenseits und erzählt ihm die Geschichte des Amphibienvogels, der aus dem Himmel stürzt, um die „jadeschuppigen Fische“ des Meeres kennenzulernen.

Das ist keine kitschige Sterbebegleitung, sondern entpuppt sich als Gleichnis, das weit über Familiensaga und Nahostkonflikt hinausweist – fragt es doch nach der Identität des Künstlers. So wie der Vogel, der für einen Moment der Ekstase den Luftraum verlässt und in die Fluten des Meeres taucht, ist der Kreative ein Migrant zwischen den Kulturen. Seine Aufgabe ist es, das Fremde zu erkunden, Grenzen zu überwinden, um eine künstlerische Utopie, ein Wolkenkuckucksheim zu erschaffen.

Diese Allegorie auf die Kraft des Theaters ist ein starkes Bild zum Start einer neuen Ära. Sie zum Leben zu erwecken, gelingt Kosminski an diesem Abend nicht. Trotzdem werden er und sein Ensemble am Ende frenetisch beklatscht. Das Stuttgarter Publikum freut sich, dass auch endlich das Staatsschauspiel verhandelt, was die Stadt bereits seit Jahrzehnten auszeichnet – eine Vorzeigemetropole der Integration zu sein. Schwabenbonus hat der in Pfullingen Aufgewachsene ohnehin, die Szene im Ländle kennt er gut. Kosminskis Theater will dezidiert politischer werden und vor allem als wichtige Institution der Stadt künftig noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Als Intendant am Nationaltheater Mannheim hatte er die „Bürgerbühne“ geschaffen, sich der Stadt zugewandt. Sein Vorgänger Petras stand auch deswegen in der Kritik, weil er viel auswärts inszenierte und Stuttgart für ihn der „fremdeste Ort“ blieb. Kosminski will das ganz anders machen. Nationales und gar internationales Interesse sichert er sich mit der Verpflichtung von Stars wie Silke Bodenbender, Itay Tiran und seinem Ruf als Experte für Uraufführungen. Hinzu kommt, dass er künftig viel mehr Regisseurinnen ans Haus binden will – ein überfälliger Zug, den Armin Petras versäumt hatte.

Doch auch wenn sich viele nun über die deutliche Abkehr von dessen Theaterästhetik freuen – Petras’ selbstversponnene Experimentierfreudigkeit wird man in Stuttgart noch vermissen. Ein Prise davon hätte den Vögeln tatsächlich zu luftigen Höhen verholfen. Die Heimat des Künstlers liegt eben in der Fremde. In dieser Hinsicht hat man Petras in Stuttgart wohl gründlich missverstanden.

Info

Vögel Burkhard C. Kosminski Schauspiel Stuttgart

Antonia Munding hat Kulturjournalismus, Gesang und Musikwissenschaften studiert. Sie ist Theaterenthusiastin, als freie Autorin arbeitet sie unter anderem für den Deutschlandfunk und Oper! das Magazin

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