Ein praller Frauenpo im glitzernden Pailettenrock schiebt sich mit weit ausholendem Hüftkreisen in den Bildvordergrund. Drum herum zappeln drei Paar streichholzdünner Herrenbeine in speckigen Jeans oder zerknitterter Stoffhose. Körperhälften. Beine und Hinterbacken. Angeschnittene Oberkörper, keine Köpfe.
Peter Luppa hat die Szene bei einer Premierenparty am Berliner Ensemble (BE)aufgezeichnet. Er drückt die Stopptaste seines Smartphones. „Ob ich will oder nicht, ich guck den Leuten direkt auf den Schritt. Das liegt an meinem tiefergelegten Fluchtpunkt“, sagt er und lächelt.
Peter Luppa blickt auf die menschlichen Proportionen bauchnabelabwärts: Rumpf, Beine, Schuhwerk. Die großen blauen Augen zaubern einen fast kindlichen Ausdruck in sein Gesicht, das abgesehen von winzigen Lachfältchen und einem sanften Doppelkinn überraschend glatt wirkt.
Lässig schnappt sich Luppa, der in diesem Jahr 60 wird, einen kleinen Hocker, schiebt ihn an den Schauspielerstammtisch rechts vom BE-Kantineneingang und stellt sich drauf. Seine Ellbogen stützt er bequem auf die Tischplatte. „Was bedeutet eigentlich Norm?“, ruft er. „Wann gehört man dazu? Wenn man groß ist und zur Mehrheit gehört? Ich könnt’ den Spieß doch umdrehen und behaupten: Wir sind klein, aber wir sind die Norm. Und ihr – seid merkwürdige Riesen!“
Luppa glaubt, dass sich hinter der Norm nichts weiter als eine Behauptung verbirgt. Eine Rolle, in die man hineinwächst, bis man sie für naturgegeben hält. Laut dieser Norm gelten in Europa jene Menschen als kleinwüchsig, die auf der Zentimeterskala 150 nicht überschreiten. Mit knapp 138 Zentimetern liegt Peter Luppa deutlich darunter.
Er wurde an Silvester in Pirmasens, einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz, geboren. Bei dem jüngsten von drei Kindern zeigte sich früh, dass die Proportionen anders ausfielen als bei seinen beiden Schwestern. „An mir klebt ein Überraschungseffekt. Immer aufgerissene Augen und Kopfschütteln, wenn mich jemand zum ersten Mal sieht.“
Er rudert mit den Armen, um die eigenen Umrisse zu beschreiben. Sein dichter dunkelblonder Haarschopf wippt dabei im Takt. „Arme und Beine sind kurz – Rumpf, Kopf und Oberkörper normal. Ach ja, inzwischen hab ich noch ’n Bäuchlein dazubekommen. Auch als Zwerg wächst man weiter!“ Luppa wirkt bissig, aber nicht verbissen. Sein Kleinwuchs ist die Folge einer Wachstumsstörung, der sogenannten Hypochondroplasie. Luppa hat seine eigene Theorie: „Petrus hat wohl zu viele Überstunden gemacht, und was dabei herausgekommen ist, steht hier auf dem Hocker!“
Von politischer Korrektheit hält er nichts. Er habe kein Problem damit, wenn ihn jemand mit „Zwerg“ oder „Liliputaner“ anspricht. „Vorausgesetzt, er, sie oder es ist kein Arschloch!“ Auf die Palme bringen ihn aber Eltern, die ihre Kinder verschämt zur Seite ziehen, sobald diese ihn mustern. „Der normorientierte Erwachsenenblick vergiftet den unbefangenen Zugang zur Welt“, sagt er, schluckt und muss über seinen geschraubten Satz lachen. Mit den eigenen Eltern hat er großes Glück gehabt, er verdanke ihnen sein Selbstbewusstsein. „Weder haben sie mich aus falsch verstandener Sorge versteckt, noch habe ich jemals eine Extrawurst bekommen.“
Keine Selbstverständlichkeit in einer Zeit, in der Menschen beim Wort „Inklusion“ verwundert aufhorchten. „Ich hab Fußball gespielt, gerauft und saß neben großen Kindern in einer ganz normalen Schule.“
Nur die Liebe
Nur in der Liebe empfindet Peter Luppa sein Kleinsein als unüberwindbare Hürde. Situationen, in denen sich sein Humor melancholisch verfärbt: „Kein Hocker hat mir da je geholfen, auf Augenhöhe zu sein.“ Luppa wechselt das Standbein und verliert für einen Moment die Balance.
Er fängt sich und erzählt von seiner Ausbildung zum Zahntechniker. Sieben Jahre hat er in einem Karlsruher Labor gearbeitet, bis ihm eines Morgens der Artikel über einen kleinwüchsigen Mann in die Hände fiel, der seinen Beruf als Flugzeugtechniker für die Schauspielerei an den Nagel gehängt hatte. „Plötzlich wusste ich, dass mir der da oben meine Erscheinung nicht umsonst geschenkt hat.“
Luppa hievt sich schwungvoll vom Hocker auf den Stammtisch und schlägt die Beine übereinander. „Als Zahntechniker bist du für niemanden sichtbar. Den Job kann also jeder machen, egal wie er aussieht. Warum sollte ausgerechnet ich mich verstecken? Ein Zwerg auf dem Zahntechnikerstuhl ist doch komplett verschenkt!“ Luppa fasste einen Entschluss. Er bewarb sich an allen staatlichen Schauspielschulen, schrieb an Agenturen und Produktionsfirmen, versandte mehr als 300 Briefe und erntete ebenso viele Absagen. Alle endeten mit derselben Begründung: Ein Kleinwüchsiger passe nicht ins Ausbildungssystem und sei im normalen Theaterbetrieb nicht vermittelbar. Luppa versetzt dem Hocker einen Tritt mit der Schuhspitze. „Ich hab die Vorurteile in den Wind geschlagen und weitergemacht!“ Schließlich nahm ihn eine Münchener Agentur als Statist in ihre Kartei auf.
Kurz vor Heiligabend 1985 klingelte Peter Luppas Telefon. Ob er nicht in der Uraufführung des Nusser von Franz Xaver Kroetz am Staatsschauspiel München mitwirken wolle, als Zwerg neben Sepp Bierbichler?
Luppa drückt sich von der Tischkante ab und landet mit einem beeindruckenden Satz vor der Kantinentheke. „Kroetz, Bierbichler. Ich hatte keine Ahnung, wer die waren. Ich fuhr aber am Vierundzwanzigsten im heftigsten Schneetreiben nach Pasing, um den Kroetz kennenzulernen.“
Er erzählt, wie ihn Franz Xaver Kroetz auf seinem Hof empfing. Mit dem Textbuch in der Hand und seiner Mutter im Rücken. Die Geschichte des kleinen Mannes im Nusser ähnelte Luppas eigener. „Ein Soldat, dem man das Geschlecht abgeschossen hat, trifft einen Zwerg, der ihm Mut macht: ‚Gib nicht auf, das Leben geht weiter, du kriegst das hin.‘“ Luppa war begeistert.
Aber würde er es schaffen ohne Ausbildung und Theater-Erfahrung? „Kroetz’ Mutter wollte ihrem Sohn die Entscheidung abnehmen: ‚Geh, den nimmst, den Peter, der is’ so ehrlich, der kann das.‘“ Kroetz selbst reagierte zurückhaltender. „Nur klein sein reicht nicht. Du musst auch spielen können, den Text behalten, und Talent brauchst du auch.“ Er bot Luppa zwei Wochen Probezeit – danach wollte er sich entscheiden. Die Zusage kam nach einer Probe, auf einer Kneipentoilette während der Pinkelpause.
Luppa räuspert sich, ordert bei der Kantinenfrau Cappuccino und setzt sich mit seiner Tasse nach unten auf den Hocker. „Der Knoten war geplatzt und ich der glücklichste Mensch. Die Höhenunterschiede verschwanden auf der Bühne, auch für den Kroetz, der plötzlich ein Problem hatte, weil er den Zwerg nicht mehr in mir sah.“ Der Hocker quietscht, als Luppa ihn näher zum Tisch zieht, um die Kaffeetasse abzustellen. Sofort steht die Frage nach groß oder klein wieder im Raum.
Kleine Menschen, große Künstler
Als scharfzüngiger Lord Tyrion Lannister in Game of Thrones wurde Peter Dinklage (1,35 Meter groß) zum Helden, er hat für seine Rolle mehrmals den Emmy bekommen. Christine Urspruch, die „Alberich“-Darstellerin aus dem Tatort Münster, wird von einem Millionenpublikum gesehen, Bariton Thomas Quasthoff ist ein gefeierter Künstler. Sie alle sind nicht einfach nur berühmt, weil sie kleinwüchsig sind.
Regisseur Peter Jackson wiederum fand für seine Hobbit-Filme nicht genug kleinwüchsige Darsteller, die seinen hohen Ansprüchen genügten. Also schrumpfte er Schauspieler per Tricktechnik auf einen knappen Meter.
Peter Luppa hätte vor Jackson wahrscheinlich bestanden. Erste Schauspielpartien übernahm Peter Luppa am Staatstheater Karlsruhe in Molnárs Liliom. Ab 1986 folgten eine Zusammenarbeit mit Franz Xaver Kroetz und der Wechsel an das Bayerische Staatsschauspiel in München, wo er unter anderem den Zwerg in der Uraufführung von Der Nusser mit Sepp Bierbichler verkörperte. Anschließend war er als Gnom Steißbart in Der tote Tag in der Regie von Wolf Redl am Schauspielhaus Bochum zu sehen. Es folgten zahlreiche Gastspiele an den großen Schauspielhäusern in Stuttgart, Bochum, Augsburg, Hamburg, München, Dresden und Ulm sowie am Schauspielhaus Zürich, am Burgtheater Wien und bei den Salzburger Festspielen. Peter Luppa ist seit vielen Jahren festes Ensemblemitglied am Berliner Ensemble.
Am 18. November liest Luppa um 20 Uhr aus Ihr Waldenten unseres Volkes von Klaus Pohl und Peter Luppa im neuen Werkraum des Berliner Ensembles.
Bierbichler, mit dem er seit der Nusser- Produktion befreundet ist, empfiehlt ihn 2001 ans Berliner Ensemble. Hier erobert Luppa als bizarrer Trickbetrüger in Peter Turrinis Ich liebe dieses Land seine Zuschauer – und überzeugt seine Kollegen. Weitere Gastrollen folgen. Leander Haußmann und George Tabori werden zu seinen Lieblingsregisseuren. „Der Haußmann inszenierte 2002 Sommernachtstraum. Ich wollte unbedingt mitspielen, aber alle Rollen waren schon besetzt. Also erfand Haußmann einfach eine Figur dazu. Ich steckte in einem grünen Plastikkinderzelt mit angetackerten Nadeln – ein Tannenbaum!“ Luppa prustet in den Cappuccinoschaum.
Der plappernde Baum sei mehr als ein Gag, nämlich ein Shakespeare’scher Narr par excellence. Mit nur einem Satz lässt er den Streit zwischen Hermia und Helena, den Geliebten des Demetrius, verpuffen. Wie schafft er das? Luppa zieht die rechte Augenbraue hoch: „Alles eine Frage des Blickwinkels! Der Zauber verfliegt, sobald man’s erklärt.“
Tabori will mit Luppa zusammenarbeiten, als er einen Ersatz für David Bennent in Die Juden sucht. Tabori gefallen Luppas expressive Körperlichkeit und sein direkter Ton. Er besetzt ihn in Das Erdbeben-Concerto und Warten auf Godot. Auch der damalige Intendant Claus Peymann schätzt Luppa – lässt ihn auf der Bühne aber nie über die Zwergenrolle hinauswachsen. Luppa spielt den Prototyp-Idioten in Andorra und bietet als kleiner Spaßmacher in Thomas Bernhards Macht der Gewohnheit dem großen Jürgen Holtz Paroli. „Für Peymann war vor allem wichtig, dass ich den perfekten Purzelbaum schlage.“ Luppa kann darüber lachen. In den Vorstellungen bricht er das Clown-Klischee trotzdem – mit virtuos verunglückten Vorwärtsrollen. Seit 2004 ist Luppa festes Ensemblemitglied und inzwischen eine BE-Institution, die „Seele“ des Hauses, sagt eine Kollegin, die sich im Vorbeigehen in unser Gespräch klinkt.
Der große Monolog
Er ist einer von nur zwei Schauspielern aus der Ära Peymann, die von dessen Nachfolger übernommen wurden. Luppas Liste großer Regisseure von Kroetz über Marthaler, Achternbusch, Strehler bis hin zu Peymann, Tabori und Haußmann hat sich seitdem um ein paar angesagte Namen verlängert. „Angesagt oder nicht – mich interessiert nur, was ich zu spielen hab.“ Es freue ihn besonders, wenn er „mal nicht den Zwerg geben muss“, sagt er, schubst die Kaffeetasse vom Hocker, die klirrend zu Boden kullert.
Er erzählt von Brechts Kaukasischem Kreidekreis, den Michael Thalheimer inszeniert hat und in dem er nicht nur den geköpften Gouverneur spielt, sondern auch die Schwiegermutter, mit verstellter Stimme. „Meine erste Frauenrolle“, schwärmt er. Oder die Figur des Jakob in Simon Stones Griechischer Trilogie – in der viel vom privaten Luppa stecke. Viel von diesem ewig guten Kumpel, den die Frauen zwar gerne um sich haben, aber in der Liebe auf Distanz halten. Stone habe sie ihm nach intensiven Gesprächen auf den Leib geschrieben – „ohne dass ihm dabei ständig die Zentimeter vor Augen flimmerten“.
Den Zuschauern springen sie trotzdem ins Auge. Etwa wenn Luppa als Jakob neben dem sich selbst bemitleidenden Freund steht, den die eigene, zuvor misshandelte Ehefrau rollstuhlreif geschlagen hat, und ihn – selbstverständlich auf Augenhöhe – tröstet. Da wird Luppa zu einer Figur, die alle anderen an Menschlichkeit überragt. Die Kritik feierte ihn für seine Rolle neben Andreas Döhler, Martin Wuttke, Stefanie Reinsperger und Caroline Peters als „exzellenten Schauspieler“.
Luppa will sein Leben, die Geschichte des kleinen Mannes, der auszog, die Theaterbühnen zu erobern, einmal von A bis Z erzählen. Mit seinem Freund, dem Autor Klaus Pohl, arbeitet er intensiv an der Umsetzung. Einen Vorgeschmack wird es am 18. November geben. 90 Minuten Luppa live im gerade frisch eröffneten Werkraum. „Zwar noch nicht der große Monolog auf der Hauptstadtbühne – aber immerhin.“ Luppa lächelt und lehnt die Schultern gegen den Stammtisch.
Im Alltag überwindet Peter Luppa die Norm spielerisch mit einem Hocker. Auf der Bühne arbeitet er ohne Hocker auf Augenhöhe. Und bei der nächsten Premierenparty? „Bleib ich auf Bauchnabelhöhe. Denn da unten ist die Luft bedeutend besser – vorausgesetzt, keiner furzt!“
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.