Schauspieler Jens Harzer im Porträt: Vom Iffland-Ring bis „Babylon Berlin“
Theater Nahezu kafkaesque strauchelt Jens Harzer in Leander Haußmanns „Intervention“ über die Bühne. In Hamburg spricht der Träger des Iffland-Rings über betrunkenes Spielen, gute Regie und seine Faszination für sprachliche Leerstellen
„Kino nur, wenn Visconti anruft“, hieß es früher. Noch immer dreht er eher selten
Foto: Armin Smailovic für der Freitag
Eine Blumenvase kippt, als Jens Harzer den Mantel auszieht und ihn mit Schwung über das Art-déco-Tischchen fegt. Seine knallrote Mütze hebt sich bissig von den gedeckten Beerentönen im Kaminzimmer des Hotels „Vier Jahreszeiten“ direkt an der Hamburger Binnenalster ab. Bevor er sich mit einem verschmitzten Lächeln entschuldigen kann, wischt eine Kellnerin bereits den Tisch trocken, eine Minute später kommt sie mit einem Kännchen Tee zurück. Man kennt Jens Harzer hier. Trotzdem wirkt er in Jeans und Wollmütze zwischen dem gediegenen Salon-Inventar etwas verloren.
Harzer nippt am Tee, hält beim Sprechen oft inne. Mit den Händen zerteilt er dann die Luft. Manchmal holt er überraschend aus, schiebt ein wichtiges Argument vor
gument voran, kommentiert. Ein exaktes Gedankendirigat voller Kontrapunkte.Die Uraufführung von Intervention zwei Tage zuvor am Thalia Theater steckt ihm noch in den Knochen. Eine absurde Familientragikomödie, inszeniert von Leander Haußmann, geschrieben vom Regisseur selbst, gemeinsam mit dem Autor und Musiker Sven Regener. Jens Harzer spielt die Hauptfigur Markus, für die er sich in eine Mischung aus Groucho Marx und dem jungen Charlie Chaplin verwandelt hat; einen Akademiker, Oberhaupt einer Patchworkfamilie, der in virtuosen Wortgirlanden zum Grünkohl-Essen lädt, um ein dringendes Problem – das Leben seines Sohnes – zu besprechen.Drei Tage vor der Premiere erkrankte eine Kollegin, dringende technische Änderungen drohten an bürokratischen Hürden zu scheitern, verkürzten die ohnehin knappe Probenzeit auf den letzten Metern dramatisch. Wie viel Krise ist in Endproben normal? Leander Haußmann würde das Chaos in gewisser Weise ja anziehen, sagt Harzer und rauft sich das Haar. Dieses Zusammenballen von Überforderung, Halbfertigem, Angedachtem sei typisch für „Leander“, dabei sei er für ihn einer der „geistreichsten Menschen, die das deutsche Theater hat“, aber man müsse ihm genau zuhören, ihn lesen können, um ihm etwas hinzuzufügen – „wie eben bei allen guten Regisseuren“.Zappeln wie bei KafkaIn der vorletzten Probe ist ein solcher Rollenspagat zu beobachten. Jens Harzer alias Markus verabschiedet sich und trägt laut Regieanweisung einen „überdimensionierten Rucksack“, mit dem er nicht durch die Tür passt. Haußmann hat plötzlich den Einfall, Harzer einen monströsen Himalaja-Trekkingrucksack inklusive Isomatten aufzubürden. Der riesige Plastikberg erdrückt den Schauspieler fast, bestimmt fortan seinen stolpernden Gang. Stoisch versucht er sich auf der Drehbühne immer wieder durch einen Türrahmen zu zwängen, in dem er natürlich stecken bleibt. Harzer trägt sein Requisit mit fast heiligem Ernst, setzt jeden Schritt akkurat. Als Zuschauerin sieht man in der gebeugten Gestalt plötzlich die große Familie berühmter Wanderfiguren: den gebeutelten Hiob, den ewig umherirrenden Juden Ahasver, Eichendorffs romantisch-melancholischen Taugenichts. Bis Harzer strauchelt, der Rucksack ihn zu Boden drückt und wie in Kafkas Verwandlung hilflos zappeln lässt – alles Chargenhafte stürzt da in den Abgrund einer grotesken Welt.Harzer aber hat ein Problem mit der „Karnevalisierung“, die er so nicht im Text liest. In der Kantine diskutiert er mit Haußmann weiter, auch über das Tempo des Spiels. Ihm ist es nicht hoch genug, die Figuren liefen Gefahr, zu „bürgerlich“, zu erklärend zu werden.„Ich glaube, wir hätten viel weiter gehen können mit der Absurdität des Stückes“, sagt er jetzt in der Hotellobby, und im selben Atemzug: „Trotzdem – ich tat immer gut daran, Leander zu vertrauen – und er mir auch.“ Im zweiten Teil werde man jetzt kürzen, auch die Pause streichen. Eine Premiere sei ja kein Endpunkt, „das wird schon noch eine runde Sache“.In Jens Harzers Stimme schwingt eine eigentümlich helle Melodie. Sie macht das Schillernde seiner Sprache aus, die den Möglichkeiten jedes Wortes lauscht. Beiläufig folgt man so komplexen Gedankengängen, ohne je die Direktheit des Ausdrucks zu vermissen.Jens Harzer faszinieren die Leerstellen, das UnausgesprocheneViel zu sagen hat er von Anfang an. Dieter Dorn holt den 21-jährigen Studenten der Otto-Falckenberg-Schule 1992 noch vor dem Abschluss an die Münchner Kammerspiele. Er habe nie das Problem gehabt, diesen „Generationssturm“ machen zu müssen, sagt er. Wie auf Stichwort brummt es aus der Manteltasche, Harzer kramt ein aufklappbares Handy hervor, das inzwischen Sammlerwert haben müsste. Es ist Haußmann, der nochmals über die Premiere sprechen will, Harzer vertröstet ihn. Obwohl seine Kollegen – Schauspiellegenden wie Thomas Holtzmann, Rolf Boysen, Gisela Stein – mehr als zwei Generationen älter sind als er, spielt er von Anfang an auf Augenhöhe mit ihnen, wird mit großen Rollen betraut.Die hohe Sprache, Ernsthaftigkeit, Gründlichkeit, „bis zur Verknöcherung“ bei Dorn, habe ihn geprägt. Er beschäftigt sich akribisch mit dem Text, möchte „als Figur trotzdem immer über diesen hinausragen oder hinter dem Sprechen verschwinden“. Überhaupt sei die Sprache ja das eine, die Mitteilung, der Dialog – aber das Ungesagte bewege doch am meisten, die Leerstellen, das Nicht-mehr-Sprechen. Kleist liebt er deshalb vor allen anderen, auch Tschechow und Dostojewski sind ihm nah. Er spielt die Scheuen, die Außenseiter, Geheimnisvollen, nie sind seine Charaktere einfach zu lesen.Seine Ausdrucksneugierde treibt Harzer in die Arme von Regisseuren und Kollegen, die ihn herausfordern. Als bislang glücklichste Begegnung sieht er die mit Jürgen Gosch. „Nie wieder habe ich eine solche unideologische Freiheit erlebt, eine derartige Ausdrucksgewissheit“, sagt er. Bis heute gehöre die Inszenierung von Tschechows Onkel Wanja 2008 am Deutschen Theater Berlin zu seinen Lieblingsproduktionen. Wie ihm Gosch geholfen habe, seine Scheu, betrunken zu spielen, zu überwinden, ihm zugleich Leichtigkeit in sein ernstes Auftrittsritual brachte, werde er nicht vergessen. Sein Tod schmerzt ihn noch immer.Vertiefung, so de-Niro-mäßigBruno Ganz vermachte ihm 2019 den Iffland-Ring, die Auszeichnung, die ihn zum „bedeutendsten und würdigsten“ deutschsprachigen Schauspieler kürt. Bereits als Student sieht er Ganz in Salzburg. Bei einer Probe als Coriolan berührt ihn dessen „leise Vergeblichkeit“, mit der er in einem großen Monolog zum Kampf aufruft. Später stehen sie zusammen in Botho Strauß’ Ithaka in München auf der Bühne. Hier ist es nicht Ganz’ Sprache, die ihn fesselt, sondern seine Hingabe an die Details der Figur; wie er sich während der Proben mit dem Spannen eines Bogens beschäftigt, jeden winzigen Schritt präzise einübt, sodass es dann in der entscheidenden Szene so wirkt, als habe er nie etwas anderes gemacht, „das war ja das Entscheidende, was die Figur als wahren Odysseus auszeichnete, der als Bettler unerkannt zurückgekehrt war.“ In dieser Vertiefung, „so de-Niro-mäßig“, erkenne man eben auch einen großen Schauspieler.Mit seiner Frau, der Schauspielerin Marina Galic, steht er in zahlreichen Stücken auf der Bühne. In Intervention spielt sie Markus’ Ex-Frau Silvie. „Mit ihr ist das immer eine schöne, gegenseitig herausfordernde Arbeit“, sagt er. Ansonsten spricht er über Privates nicht so gerne.Jens Harzer ist nicht nur Träger des Iffland-Rings, sondern war auch zweimal, 2008 und 2011, Schauspieler des Jahres, erhielt viele weitere Preise. Haben diese Auszeichnungen etwas geändert? „Nichts“, sagt er ohne nachzudenken – um dann hinzuzufügen: Eineinhalb Jahre bevor er den Iffland-Ring erhielt, nahm er sich aufgrund einer Krankheit eine längere Auszeit. Eine gute Zäsur. Die Auszeichnung habe ihm einen zusätzlichen Puffer verschafft, nachzudenken, wohin er künstlerisch gehen will.Ging es zu Beginn um das bei Dorn so wichtige Maßhalten, interessiert ihn nun die Freiheit des Spiels. Diese findet er nach Jürgen Goschs Tod vor allem in der Zusammenarbeit mit Johan Simons, dessen „Grundannahme einer Reduktion“ nie in Abstraktion erstarre, „sondern im Wenigen sehr tief geht“. Als Zuschauer ist er andererseits seit Dämonen 1999 an der Berliner Volksbühne fasziniert von Frank Castorfs Attacken auf Sprache und Form, von dessen „ständiger Ausdrucksüberforderung“. Warum er nie mit Castorf gearbeitet hat? Harzer zuckt mit den Schultern. „Es gab Interesse – gegenseitiges –, das bislang zu nichts führte. Vielleicht ändert sich das noch“, sagt er und lächelt. „Wäre doch schön.“Vor der Kamera steht Jens Harzer seltenDas wünscht man sich auch für seine Präsenz im Film. Bei Dorn sei Drehen früher verpönt gewesen, „Kino nur, wenn Visconti anruft, so hieß es immer.“ Harzer entwickelt daraus eine Tugend, lehnt die meisten Rollen ab. Trotzdem gibt es große Auftritte wie 2006 als fanatischer Priester in Requiem, seit 2017 als mysteriöser Doktor Schmidt in Babylon Berlin (weswegen ihn auch Menschen kennen, die nie ins Theater gehen) und zuletzt 2021 in Ruhe! Hier stirbt Lothar, wo er an der Seite von Corinna Harfouch einen eingebildeten Kranken im Hospiz spielt. Immerhin drehe er im Herbst nun seine erste internationale Produktion, verrät er.Es brummt wieder in der Manteltasche, nochmals Haußmann, er rufe jetzt gleich zurück, verspricht Harzer.Mit Leander Haußmann habe er erstaunlicherweise eine ganz eigene Welt der Zusammenarbeit entdeckt, die mittlerweile fast zehn Jahre anhält und ihm Lust auf extremere, andere Verwandlungen gemacht habe. Die Rollen, die ihm Haußmann vorschlage, seien ihm meist fremd – ob Cyrano de Bergerac oder Harpagon –, aber je fremder zu Beginn, umso besser sei das Ergebnis, umso enger seien sie ihm schließlich ans Herz gewachsen.Jedes Textbuch bewahrt er in einer eigenen Tasche auf. Mal in einer Plastiktüte, manchmal in einem besonderen Stoffbeutel. Immer in losen Blättern. Niemals kritzele er einfach so in den Text. Probennotizen, Anmerkungen zu einzelnen Vorstellungen und Wiederaufnahmen schreibt er auf extra Seiten. So werden die Tüten im Laufe der Zeit immer schwerer. Gewichtig sind Harzers Rollen ohnehin.„Auf die Bühne geht man doch, weil man sich selbst nicht ausreicht, oder?“, sagt er zum Abschied. „Das Ich genügt für das Leben, aber ist zu wenig fürs Theater.“ Solo-Unternehmungen findet er meist uninteressant. „Es muss doch etwas hinzukommen, was man selbst nicht überblicken kann – und von den anderen geschenkt bekommt.“ Erst dann entstehe etwas Inspiriertes, „die wirkliche Freiheit“.