Lebten wir nicht in einem postheroischen Zeitalter, das Held*innen dafür kritisiert, dass ihnen immer auch etwas Narzisstisches anhaftet und ihre Opferbereitschaft im Übermaß glorifiziert wird – dann müsste man einige der Protagonist*innen in Welcome To Chechnya wahrscheinlich als solche bezeichnen. Leuchtende Beispiele für Menschlichkeit, Mut und Mitgefühl sind sie auf jeden Fall.
Das trifft sowohl auf die im Film porträtierten LGBTQ-Aktivist*innen als auch einige queere Tschetschen*innen zu, denen sie die Flucht aus der teilautonomen russischen Republik ermöglichen. Für die Ausstrahlung in Deutschland hat Arte dem Film den Titel Achtung Lebensgefahr! LGBT Tschetschenien verliehen. Spätestens seit der 2017 losgetretenen Verfolgungswel
losgetretenen Verfolgungswelle gegen homosexuelle, bisexuelle und trans* Menschen ist ihnen ein gefahrloses Leben dort nicht mehr möglich. Eine regelrechte Jagd veranstalten die Behörden auf Schwule und Lesben, verschleppen und foltern sie, um an weitere Kontakte zu gelangen. Viele überleben die Tortur nicht oder werden gezielt ermordet.Regisseur David France begleitet in seinem Dokumentarfilm die riskante Arbeit von David Isteev und Olga Baranova, die gemeinsam die Rettungsmissionen des „Russian LGBT Network“ durchführen. Sie ordnen die gezeigten Fluchtszenen ein und geben in separat geführten Interviews Hintergrundinformationen. Zudem werden Geflüchtete näher porträtiert, die sich in einer geheimen Unterkunft in Moskau befinden. Dort warten sie auf ein Visum für westliche Staaten, nachdem man sie aus Tschetschenien herausgeschleust hat.Weil die Geflüchteten von der Regierung, aber auch oftmals von den eigenen Angehörigen weiterhin verfolgt werden, mussten auch bei den Dreharbeiten Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Die Mehrheit der zu Wort kommenden Opfer wurden mit Hilfe einer „Deepfake“-Technik unkenntlich gemacht. Statt ihres eigenen Gesichts ist das von Freiwilligen zu sehen, das ihnen wie eine unauffällige, digitale zweite Haut übergestreift wird. Eine geschickte Lösung, die die Betroffenen nicht entmenschlicht und einer gewissen Metaphorik über die Maske gerecht wird, die Schwule und Lesben in einer homofeindlichen Gesellschaft zu tragen haben.Weitere Maßnahmen der Dreharbeiten vor Ort erklärt France in Interviews: Er habe sich als Tourist ausgegeben und stets zwei Handys mit sich geführt. Während er mit dem einen Smartphone drehte, befanden sich auf dem anderen Fotos von Sehenswürdigkeiten, das er im Falle einer Kontrolle gefahrlos vorzeigen konnte. In heiklen Situationen wurde außerdem mit versteckten Kameras oder unauffälligen GoPros gefilmt.Gegen die ganze FamilieDie reale Gefahr illustriert Welcome to Chechnya durch erschütternde Zwischensequenzen (darunter Dashcam-Aufnahmen und Trophy-Videos der Täter), die sich am Rande des Erträglichen bewegen: Während in einer kurzen Szene zu Beginn zwei junge Männer zu sehen sind, die nachts auf einem weiten Feld von ihren Peinigern eingekesselt und bedroht werden, blendet der Film später gerade noch ab, bevor ein großer, hastig herangeschleppter Stein den Kopf einer zuvor an den Haaren aus dem Auto gezerrten jungen Frau zertrümmert. Wie David Isteev erklärt, gelte im ultrareligiösen Land die ganze Familie als von der „Schande“ betroffen, die Homosexualität mit sich brächte. Eine Schande, die nur mit Blut weggewaschen werden könne.Auch die 21-jährige Anya fürchtet um ihr Leben. Sie kontaktiert die Aktivist*innen telefonisch; die Nummer erreicht die Betroffenen durch zuverlässige Mundpropaganda. Sie werde von ihrem Onkel zum Geschlechtsverkehr gezwungen, nachdem dieser von ihrer sexuellen Orientierung erfahren habe. Er erpresse sie damit, ihrem Vater davon zu erzählen. Da der wiederum für die Regierung tätig sei, sei ihre Situation umso brenzliger.Anyas Rettungsmission umfasst die nervenaufreibendsten Szenen des insgesamt sehr thrilleresken Dokumentarfilms. In der Hauptstadt Grozny geben sich Unterstützerinnen als ihre Tanten aus, die mit ihr auf Shoppingtour gehen wollen. Das Handy zerstören sie. Sowohl an einem Checkpoint als auch am Flughafen wird die Gruppe aufgehalten. Ständig schwingt die Angst mit, dass nach Anya bereits gesucht werden könnte. Obwohl sie es mit ihr nach Eurasien schaffen, kommt ihre Geschichte zu keinem zufriedenstellenden Ende.Dieser Rückschlag ist nicht der einzige, den der Film dokumentiert. Doch so unwahrscheinlich es auch erscheint, Welcome to Chechnya ist letztlich doch auch ein hoffnungsspendender Film. Angesichts des omnipräsenten Hasses und der enormen Brutalität, die als Damoklesschwert über den Handelnden schwebt, erscheint ihr Engagement beinah überlebensgroß.Neben den Aktivist*innen ist es vor allem ein 30-jähriger schwuler Mann, der zunächst unter dem Decknamen „Grisha“ vorgestellt wird, der sich durch seine enorme Courage hervortut. Er selbst ist kein Tschetschene. Wie er berichtet, hielt er sich nur zum Arbeiten dort auf. Dennoch sei er derart gemartert worden, dass er am Ende nur noch kriechen konnte. Als seine Familie von Russland aus nach ihm suchen ließ, wurde er plötzlich freigelassen.Der Film begleitet ihn dabei, wie er mit seinen engsten Verwandten und seinem Partner in ein unbenanntes europäisches Land flieht. Wohl fühlt er sich in der vergleichsweisen Sicherheit allerdings nicht. Stattdessen treibt es ihn kurzzeitig zurück nach Russland, wo er sich als erstes Opfer der Folter öffentlich zeigt und aussagt. Im bewegendsten Moment des Filmes, während einer Pressekonferenz in Moskau, gleitet die virtuelle Hülle von seinem Gesicht, er stellt sich mit seinem echten Namen, als Maxim Lapunov, vor. Nicht nur aufgrund der Brisanz des Themas, sondern auch wegen der spektakulären Machart ist Welcome to Chechnya ein exzeptionelles Beispiel dafür, was das Doku-Genre zu leisten vermag.Die Gerechtigkeit, die er einfordert, ist allerdings noch nicht eingezogen. Präsident Ramsan Kadyrow leugnet nicht nur die Taten, sondern schlicht die Existenz von Homosexuellen in Tschetschenien. Doch seit Veröffentlichung der Dokumentation ist immerhin das globale Bewusstsein für das Unrecht gestiegen: Gerade erst hat sich die Berliner Menschenrechtsorganisation „ECCHR“ mit dem „Russian LGBT Network“ zusammengetan und hochrangige Vertreter des tschetschenischen Sicherheitsapparats über das Weltrechtsprinzip beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe angezeigt. Auch das macht Hoffnung.Placeholder infobox-1