Verlangt eine eigenwillige und unangepasste Stadt nicht auch nach einem ebenso unkonventionellen und fordernden Programm?
Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images
Als am vergangenen Sonntag die 73. Berlinale zu Ende ging, waren sich die Kommentatoren in ihrem Urteil zum Zustand des größten deutschen Kinofestivals erstaunlich einig. Hauptsächlich von „Problemen“ und „Stillstand“ war die Rede, es wurde vereinzelt sogar die Zukunft selbst der „unter Druck“ stehenden Filmfestspiele infrage gestellt. Dass sich die Abschlussbetrachtungen der Berlinale mitunter wie ein Abgesang lesen, ist man jedoch im mittlerweile vierten Jahr unter der neuen Leitung durch Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian schon beinahe gewohnt.
Die Kritik zielt dabei stets in eine ähnliche Richtung: Zu wenige Stars würden die roten Teppiche zieren, heißt es. Zu gering sei die Anzahl großer Prestigeprojekte im Prog
te im Programm, gerade in der Wettbewerb-Sektion. Die Schieflage wird meist durch das Heranziehen von Vergleichen attestiert. Mit der Vergangenheit etwa, mit den Zeiten unter Dieter Kosslick, der es noch verstanden habe, selbst in der unmittelbaren Prä-Oscar-Saison die großen Namen Hollywoods in die Hauptstadt zu locken. Oder es werden die großen Festivals in Cannes oder Venedig als Indikatoren bemüht, wo nicht nur der Glamourfaktor wesentlich größer sei, sondern auch die Relevanz der gezeigten Filme. Der Bedeutungsverlust der Berlinale scheint, so die Diagnose, unausweichlich. Gerechtfertigt ist diese fatalistische Abrechnung nicht unbedingt. Mehr noch, teilweise verfehlen die gesetzten kritischen Spitzen schlicht ihr Ziel. Treffen sie doch nicht das, was die Internationalen Filmfestspiele Berlins im Kern, und das nicht erst seit heute, ausmacht.Keine Frage, unter dem öffentlichkeitswirksamer agierenden und charismatischer auftretenden Dieter Kosslick war der Star-Trubel um den Potsdamer Platz herum ein anderer. Der neuen Doppelspitze des Filmfestivals vorzuwerfen, dass sich zuletzt weniger große Namen aus der Kinobranche dorthin verirrten, ist jedoch schon mit Blick auf den Zeitpunkt, zu dem Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek die Leitung übernahmen, nicht fair. Schließlich war die diesjährige Festival-Ausgabe nach dem Antrittsjahr 2020 wenige Wochen vor dem ersten Lockdown nun wieder die erste, bei der die Coronapandemie keine tragende Rolle mehr spielte.Und tatsächlich tummelten sich – neben Kristen Stewart als der jüngsten Jury-Präsidentin aller Zeiten und Regie-Größe Steven Spielberg, der mit dem goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde – dieses Mal sogar mehr Prominente auf der Berlinale als noch in den letzten Kosslick-Jahren. So fanden mittels Filmen in der Berlinale-Special-Sektion etwa Helen Mirren (Golda), John Malkovich (Seneca), Sean Penn (Superpower) und Cate Blanchett (Tár) ihren Weg nach Berlin.Placeholder image-1In den übrigen Sektionen dieser 73. Ausgabe der Berlinale dominierten stattdessen erneut thematisch wie stilistisch herausfordernde Filme. Vor allem solche, die sich en détail dem Allzumenschlichen widmeten. Dass speziell der Wettbewerb dadurch weniger relevant geworden sei, ist nur dann zutreffend, wenn man „Relevanz“ mit Vermarktbarkeit und zu erwartenden Auszeichnungen gleichsetzt. Aber eben nicht, wenn man darunter Bedeutsamkeit im gesellschaftspolitischen Sinne versteht.Filme, die herausfordernIn diesem Jahr taten sich mit 20.000 especies de abejas und Bis ans Ende der Nacht etwa zwei sehr unterschiedliche Filme hervor, die sich beide mit dem Thema der Transgeschlechtlichkeit auseinandersetzen. In 20.000 especies de abejas erzählt Estibaliz Urresola Solaguren mit seltenem Fingerspitzengefühl vom Hadern eines achtjährigen Kindes (Sofía Otero) mit seiner geschlechtlichen Identität. Coco, die eigentlich den männlichen Vornamen Aitor trägt, versucht während eines Sommers auf dem Dorf ihre Selbstwahrnehmung und die ihrer Umgebung auszuloten.Das spanische Drama zeigt nicht nur, welche Ablehnung das Kind dabei sowohl vonseiten der Erwachsenen als auch von Gleichaltrigen erfährt – allein das Tragen von Nagellack, seine langen Haare und eine feminine Garderobe provozieren das Umfeld. Besonders eindrucksvoll ist der Film, wenn er um die Reaktionen der drei zentralen Frauen in Cocos Leben kreist: Während die erzkatholische Großmutter (Itziar Lazkano) jedes Abweichen von tradierten Geschlechternormen engstirnig zurückweist, rühmt sich Mutter Ane (Patricia López Arnaiz) eigentlich für ihre fortschrittlichen Erziehungsmethoden. Doch sie muss sich bald eingestehen, dass sie Cocos Bedürfnisse und gesellschaftliche Ablehnung überfordern.Einzig bei Großtante Lourdes (Ane Gabarain), die auch als Imkerin tätig ist, findet die Achtjährige echtes Gehör und Verständnis. Die Bienen werden zur kraftvollen Metapher für die ungleichen Rollenverteilungen in einem komplexen Familiendrama, das neben seiner poetischen Bildsprache vor allem durch die intensive Darstellung von Sofía Otero überzeugt. Die Verleihung des Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle an die Neunjährige (damit die jüngste Preisträgerin der Berlinale-Geschichte) gehört zu den weisesten Entscheidungen der diesjährigen Jury.Placeholder image-2Gleiches gilt für die Auszeichnung von Thea Ehre als bester Nebendarstellerin in Christoph Hochhäuslers Bis ans Ende der Nacht, einer überraschend zeitgemäßen Variante eines mustergültigen Film noir. Ehre übernimmt darin die Rolle der Leni, die frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen wird, um dem abgehalfterten Polizisten Robert (Timocin Ziegler) dabei zu helfen, ihren ehemaligen Boss und Großdealer (Michael Sideris) auffliegen zu lassen. Dem klassischen Figurentableau des Genres wird durch Thea Ehre als Femme fatale eine aktuelle Note verliehen, ohne dabei forciert zu wirken. Bei so viel Innovationswillen muss man es als beinahe tragisch bezeichnen, dass der Film am Ende dennoch nicht wirklich funktioniert. Er interessiert sich für zu viele Themen gleichzeitig und nicht alle Darbietungen überzeugen. Dennoch ist es erfreulich, dass Hochhäuslers Film es als einer von insgesamt fünf deutschen Beiträgen in den Wettbewerb geschafft hat. Trotz genannter Schwächen stellt er unter Beweis, woran es dem deutschen Kino gemeinhin ganz besonders mangelt: Mut.Den beweist auch Irgendwann werden wir uns alles erzählen, eine durchdringende Adaption des gleichnamigen Romans von Daniela Krien. Eingebettet in eine genau beobachtende Studie der komplizierten Gefühlswelten, die die Wende auf einem Bauernhof nahe der ehemals deutsch-deutschen Grenze auslöst, inszeniert Regisseurin Emily Atef die hochkomplexe Beziehung der 18-jährigen Maria (Marlene Burow) zum wesentlich älteren Nachbarn Henner (Felix Kramer). Zwischen intellektueller Verbundenheit, körperlicher Anziehung und klar missbräuchlichen Tendenzen oszillierend, wagt sich der Film an eine heikle Amour fou – verfällt dabei aber niemals in einen didaktischen Ton.Dass Beiträge wie diese einen Platz im Wettbewerb erhalten haben, belegt die Risikobereitschaft seitens der Festivalleitung, herausfordernde Themen auch abseits dessen anzugehen, was in momentanen Debatten gerade en vogue ist oder im Gegenteil sogar tabuisiert wird. Mit Angela Schanelecs Music (Bestes Drehbuch) und Christian Petzolds Roter Himmel (Großer Preis der Jury) fanden sich am Ende allerdings wieder die Filme mit Preisen bedacht, die ihre Courage vor allem durch eine stark ästhetisierte Form zur Schau stellen.Dass die Jury anders als die Programmleitung in diesem Jahr stärker dazu neigte, auf Nummer sicher zu gehen, beweist nicht zuletzt die Auswahl des Gewinnerfilms: Mit Sur l’Adamant von Nicolas Philibert wurde der einzige Dokumentarfilm unter den insgesamt 19 Wettbewerbsbeiträgen mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Ohne erklärenden Off-Kommentar stellt Philibert darin ein außergewöhnliches Psychiatrie-Konzept vor, eine auf der Seine schwimmende Tagesklinik in Paris. Die einfühlsame, begleitende Beobachtung von Personen und Einrichtung stellt eine beinah gefällig wirkende und damit gewissermaßen enttäuschend unstrittige Preisentscheidung dar.Eine sichere NummerBlickt man schließlich in Gänze auf die 19 Filme des diesjährigen Wettbewerbs, zeigt sich ein recht eindeutiges Bild dessen, wohin sich unter Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian das Festival entwickelt hat: Die Berlinale ist eine Liebeserklärung an das Arthouse-Kino, insbesondere an seine mitunter sperrigen Spielarten. Denjenigen, die sich für die deutsche Hauptstadt ein Festival nach dem Vorbild von Cannes oder Venedig wünschen, mag das ein Dorn im Auge sein. Aber verlangt eine eigenwillige und unangepasste Stadt nicht auch nach einem ebenso unkonventionellen und fordernden Programm?Das bedeutet noch lange nicht, dass jedes eingegangene Wagnis tatsächlich aufgeht, wie sich nicht zuletzt in der in diesem Jahr wieder erstaunlich queeren Panorama- oder der experimentellen Encounter-Sektion zeigte. Aber wie man so schön sagt: „Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der lasse sich begraben.“ Wenn es danach geht, ist die Berlinale lebendiger denn je.
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