Im Fokus der Kamera ist das Gesicht einer jungen Frau; aus dem Off erhält sie Anweisungen: „Sieh’ mich an, als wolltest du mich aufessen. Nicht wie eine Ziege, wie eine Frau!“ Die männliche Stimme weist sie an, den Blick zu senken und langsam durch die Nase ein- und durch den Mund wieder auszuatmen und dabei ein Geräusch zu machen, das wie „A“ klingt. Dann fährt die Kamera noch ein Stück zurück, und spätestens da wird klar, dass das Gegenüber, das die junge Frau zum Stöhnen und so weiter nötigt, wesentlich älter ist und sie dabei filmt.
Diese mehrere Minuten andauernde Auftaktsequenz setzt den Ton der chilenischen Serie Die Meute, der sich durch acht nervenaufreibend inszenierte Folgen zieht. Die aktivistische Haltung der Produktion, die unter anderem Pablo Larraín verantwortet, ist omnipräsent. Es gibt nahezu keine Szene, die nicht die besonders prekäre Situation von Mädchen und Frauen in Chile und den restlichen Ländern Lateinamerikas anklagt. Die Vehemenz, mit der dies geschieht, ist vereinnahmend – passt sie doch so gar nicht zu den oftmals eher freundlich-heiteren, sich auf spielerische Weise mit Feminismus auseinandersetzenden Serien. In ihrem Weltbild ist Die Meute fast mit The Handmaid’s Tale vergleichbar – nur dass hier kein dystopischer Gottesstaat imaginiert wird, sondern der ganz reale Machismo, die patriarchale Unterdrückung und die Bevorzugung der Reichen vor dem Gesetz als zentrale Probleme im Chile der Gegenwart angeprangert werden.
Nach einem kurzen Zeitsprung haben sich an einem katholischen Privat-Gymnasium in Santiago de Chile zahlreiche Schülerinnen zusammengefunden, um gegen die Übergriffe durch den Schauspiellehrer, Professor Ossandón (Marcelo Alonso), zu protestieren. Die Schulleitung weiß zwar von den Vorwürfen, sperrt sich aber gegen jegliche Verfolgung. Sofía, die junge Frau aus der Eröffnungsszene, befindet sich unter den Demonstrantinnen und trägt wie viele von ihnen ein grünes Tuch um ihr Handgelenk.
Querverweise auf die Realität
Das grüne Tuch ist in ganz Lateinamerika ein politisches Symbol für den Kampf um weibliche Selbstbestimmung und die Legalisierung von Abtreibung geworden. Erst seit 2017 ist es chilenischen Frauen überhaupt erlaubt, eine solche vornehmen zu lassen – aber nur dann, wenn die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung hervorgegangen, das Leben der Mutter bedroht oder der Embryo nicht überlebensfähig ist. Diese Querverweise in die Realität machen Die Meute unbedingt sehenswert.
Es dauert nicht lange, bis die Protestführerin Blanca (Antonia Giesen) verschwindet, was ein ambitioniertes, zugleich erstaunlich wehrhaft und kollegial dargestelltes Ermittlerinnentrio auf den Plan ruft: Oliva (Antonia Zegers), Carla (María Gracia Omegna) und Elisa (Daniela Vega) müssen jedoch bald feststellen, wie wenig Kooperation sie von der Schule und den Upper-Class-Eltern erwarten können – selbst als ein Video auftaucht, das zeigt, wie die 17-Jährige von vier maskierten jungen Männern in einer Lagerhalle vergewaltigt wird. Blanca könnte es ja immer noch so gewollt haben, so das altbekannt-groteske Argument.
Die Gruppenvergewaltigung stellt sich als Teil eines perfiden Spiels heraus, das von einem ominösen „El Lobo“ („der Wolf“) geleitet wird. Was Blanca widerfährt, ist wiederum von einem realen Fall inspiriert: Nachdem fünf Männer eine Frau während das Festivals im spanischen Pamplona 2016 vergewaltigt hatten, teilten sie den Handymitschnitt in einer Chatgruppe mit dem Titel La Manada („die Meute“). Die Tatsache, dass das Gericht zunächst nur den geringer zu bestrafenden Missbrauch, aber keine Vergewaltigung vorliegen sah, sorgte international für Aufregung.
Mit der Konzeption besagten Spiels tritt allerdings ein Handlungselement hinzu, das an der Glaubwürdigkeit des Plots kratzt. Das beginnt bei der schwammigen Darstellung der Technik, über die sich die Spieler vernetzen – man beschränkt sich auf das Stichwort „Darknet“ und pixelig-bunte Botschaften, die auf den Handys und PCs der Spieler erscheinen –, und endet mit der enorm hohen Anzahl an jungen Männern, die sich über Mundpropaganda dafür gewinnen lassen.
Zu den Rekrutierten gehört auch der Sohn der leitenden Ermittlerin Olivia, der gemobbt wird und sich daher dazu drängen lässt, eine „Prüfung“ nach der anderen zu absolvieren, um zum „Alpha“ ernannt zu werden. Meist bedeutet das, sich zunächst eine weibliche „Beute“ zu wählen, sie mittels eines stilisierten Wolf-Tattoos zu markieren – und sie dann zu schikanieren. Spätestens im letzten Drittel der Serie scheint die Allgegenwärtigkeit der gewaltbereiten Männer beinahe paranoide Züge zu tragen.
Erinnert man sich daran, dass laut der „UN Women“-Organisation unter den 25 Ländern mit den höchsten Femizid-Raten 14 in Lateinamerika und der Karibik liegen, wird man sich bewusst, dass diese Paranoia wohl in der Realität begründet liegt – und wie gut das in der Serie bemühte „Spiel“ als eine Metapher für Gewalt gegen Frauen funktioniert, die System hat. Dennoch ist Die Meute weit davon entfernt, eine Serie zu sein, die Frauen als bloße Opfer erzählt. Im Gegenteil: Mit Olivia, Carla und Elisa stellt sie den Wölfen einige mächtige Löwinnen gegenüber, deren Jagd zu verfolgen, trotz einiger „plot holes“ und vereinzelter handwerklicher Unsauberkeiten, spannend bleibt.
Info
Die Meute ab 17. Juni in der Arte-Mediathek
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