Das Wort „Geräuschkulisse“ wäre ein Euphemismus. Es klirrt und klingelt, es fiept und dröhnt, es schleift und knattert, es knackt und brummt, es tost und trommelt. Ich bin behaust von Klängen. Alle paar Wochen nistet sich ein weiteres Geräusch ein, neuerdings ein zerhacktes Morsen. Seit einem Lärmtrauma vor über 20 Jahren habe ich einen chronischen Tinnitus beziehungsweise zwei, drei, viele Tinnitusse sowie eine Hyperakusis, also eine Geräuschüberempfindlichkeit. Im Laufe der Zeit hat sich die Symptomatik immer weiter verschlimmert. Seit einigen Jahren kann ich nicht mehr auf Konzerte und zu lauten Partys gehen. Im Kino sitze ich mit einem extra angepassten Hörschutz. Freudenschreie meiner Söhne nehme ich als diffuse Verzerrung wahr. Jedes laute Umweltgeräusch kann eine Überreaktion in meinem Gehörgang und neue Dauergeräusche auslösen.
Der Drone
Im Herbst 1998 war ich bei einem Konzert von Tony Conrad, einem inzwischen verstorbenen Hauptvertreter der Minimal Music. Tony Conrad und eine Frau spielten Celli (oder Violinen?), die über Lautsprecher zu einem Drone verstärkt wurden. Mitten im Konzert hatte ich plötzlich das Gefühl, dass mir jemand Wasser ins rechte Ohr gießt. Aus Gründen, über die ich bis heute rätsele, blieb ich weiter in der zweiten Reihe stehen und ließ den quälenden Lärm über mich ergehen. Am nächsten Morgen wachte ich mit einem Pfeifen auf beiden Ohren auf. Außerdem hörte ich ein unregelmäßiges Geräusch, das wie der eiernde Alarmton eines Weckers mit nachlassender Batterie klang. Zwei Tage später ging ich zum HNO-Arzt, der meinte, ich hätte wohl ein Lärmtrauma erlitten. Er verschrieb mir durchblutungsfördernde Medikamente. Weil die Tabletten nicht halfen, wies er mich ins Krankenhaus ein. Dort bekam ich eine Kortisoninfusionstherapie. Diese blieb genauso wirkungslos wie eine anschließende Tiefdrucktherapie, bei der ich mit Leidensgenossen in einer klaustrophobischen Kabine saß. Noch ahnte ich nicht, wie einschneidend dieses Lärmtrauma sein würde. Musik war neben Fußball, Theorie und der Liebe das Wichtigste in meinem Leben. Statt einer Quelle von Daseinsfreude, Selbstermächtigung und Trost sollte sie nun zu einer Gefahr werden, zum Medium meiner Verletzlichkeit.
Die Banalität
Obwohl das selbstschädigend war, habe ich noch Jahre nach dem Lärmtrauma als DJ in Bars aufgelegt (mit Ohrstöpseln). Ich verleugnete und verdrängte immer wieder und tat, als ob mein altes Leben weitergehen könne. Das ist jetzt vorbei. Wenn ich heute zu Hause ein tolles neues Stück höre, blitzt kurz die Fantasie auf, wie ich dazu im Club tanze. Dann kommt der Stich: Es wird nicht mehr sein! Sollte mein älterer Sohn, der Gitarre spielt, eines Tages eine Band gründen, werde ich ihn nie auf der Bühne erleben können. Natürlich gibt es außer der Musik viel Schönes im Leben: meine Familie, Freunde, Natur, Lektüre. Aber es ändert nichts daran, dass mir ein wesentlicher Teil der Existenz genommen wurde. Hilfreich bei meiner Verdrängungsarbeit war die Tatsache, dass mein Leiden von außen betrachtet so unspektakulär und banal ist. Es ist unsichtbar und lässt sich nicht messen, nicht in bildgebenden Verfahren sichtbar machen, es gibt keine dramatischen Zahlen sinkender weißer Blutkörperchen wie bei schweren Krankheiten. Weil es „nur Geräusche“ sind, kommt mir meine Klage oft unangemessen vor. Sie sind ja nicht direkt lebensbedrohlich, sieht man von der erhöhten Suizidrate unter Tinnituspatienten ab. Man muss damit leben lernen, heißt es. Seit einigen Jahren sind die einzigen objektiven Daten, die es gibt, die Resultate meiner Hörtests: Hohe Frequenzen kann ich nicht mehr wahrnehmen.
Die Psychologisierung
Eine Ursache, die in jedem Text über Tinnitus genannt wird, ist Stress. Stress kann alles Mögliche signalisieren: Arbeitsbelastung, ungelöste Konflikte, Beziehungsprobleme etc. Der Tinnitus wird – indem er als Anzeichen von Stress gedeutet wird – zum Symptom degradiert, hinter dem sich tiefere Wahrheiten verbergen. Diese Tinnitushermeneutik konfrontiert den Leidenden mit schwerwiegenden Fragen: Lebe ich richtig? Bin ich mit meinen Mitmenschen im Reinen? Der Schritt zu Selbstvorwürfen ist nicht weit. „Psychologische Krankheitstheorien sind machtvolle Instrumente, um die Schande auf die Kranken abzuwälzen“, schrieb Susan Sontag in Krankheit als Metapher. Immer wieder bin ich damit konfrontiert, dass der somatische Grund meines Leidens – die Dauerschädigung meines Innenohrs – wegpsychologisiert wird. In meinen schwersten Tinnituskrisen, in denen ich überzeugt bin, mit dem Lärm im Schädel nicht mehr weiterleben zu können, werde ich stets nach anderen psychischen Belastungen gefragt. Schnell geht es dann um den Konflikt mit meiner alten Mutter, die allein in Stuttgart lebt, hilfebedürftig ist, aber fast jede Hilfe ablehnt. So sehr mich das mitnimmt, rein empirisch konnte ich nie einen Zusammenhang zwischen der Intensität des Konflikts und meinem Tinnitus feststellen. Im Gegenteil: Der Tinnitus verschlimmert sich unvermittelt, er kommt aus dem Nichts, ob im Urlaub oder am Schreibtisch, ob beim Joggen oder mitten im Schlaf. Er lässt sich nicht steuern, nicht besänftigen und kontrollieren. Er ist ein tumbes materielles Faktum, basta.
Der Verstärker
Der Tinnitus wirkt wie ein Verstärker, er potenziert latente Ängste und Psychopathologien. Seit früher Kindheit neige ich zu Zwangshandlungen, schon mit sechs musste ich vor dem Schlafengehen die technischen Geräte kontrollieren. Auch wenn ich viele Zwänge durch Verhaltenstherapien loswerden konnte, kommt der Tinnitus meinen Zwängen wie gerufen. Er schreit nach permanenter Prüfung und zwanghafter Selbstbeobachtung: Ist er schlimmer geworden? Ist ein neuer Sound dazugekommen? Es kostet mich unendlich viel Kraft, mich nicht immerzu auf die Metamorphosen in meinen Ohren zu fixieren. Oder nicht 42 Online-Hörtests hintereinander zu machen. Denn da ist diese Angst, dass ich im Alter taub sein werde und apathisch in der Ecke sitze, lahmgelegt von dem inneren Krach. Und da ist die kindliche Angst vor dem Ausgeschlossensein, dem Nichtdazugehören. Täglich sehe ich die Instagram-Postings von Freunden und Bekannten, die einen begeisternden Konzertbesuch protokollieren. Ich war nicht dabei und konnte es nicht sein. Konzertbesuche sind in meiner Peergroup inzwischen zu einer der wichtigsten sozialen Aktivitäten geworden, und ich bleibe draußen vor der Tür. Und da ist meine schon früh entwickelte Tendenz zum nostalgischen Bedauern. Das Beste war irgendwie immer schon vorbei, sei es die kindliche Idylle vor der Scheidung meiner Eltern, meine Zeit als Indiepop-Kid in den Achtzigern, die Studentenzeit mit französischer Theorie. Der Drone scheidet wie sonst nichts mein Leben in eine Zeit, als alles gut war, und eine „andere Zeit“ danach. Was wäre eigentlich geworden, wenn ES nicht passiert wäre?
Der Trotz
Tatsächlich ist es mir einige Zeit nach dem Trauma gelungen, meinen Tinnitus in Schach zu halten und zu kompensieren. Zwar hat er sich immer mal wieder verschlimmert und zu einigen Tagen Angst und Schlaflosigkeit geführt, aber irgendwie konnte ich den Tinnitus jedes Mal in mein System integrieren und in den Hintergrund verbannen. Das hat sich 2014 geändert, aus dem mehr schlecht als recht kompensierten ist damals ein dekompensierter Tinnitus geworden. Die Ursache war ein weiterer Lärmschock. Idiotischerweise hatte ich einen Kinderwagenreifen an der Tankstelle aufgepumpt, er platzte mit einem lauten Knall direkt neben meinem Kopf. Der Tinnitus wurde schlimmer, trotzdem besuchte ich – wohl aus infantilem Trotz (F*** you, Tinnitus!“) – eine Woche später ein Andreas-Dorau-Konzert. Danach ging das mit den Verzerrungen los, höhere Stimmlagen verwandeln sich seither in ein Piepen, und wenn ich selbst laut spreche, klingt das in meinen Ohren wie ein schepperndes Transistorradio. Meine trotzige Verleugnungsstrategie war mir zum Verhängnis geworden. Seither leide ich unter wiederkehrenden Depressionen, 2016 und 2018 hatte ich zwei schwere Zusammenbrüche. Ich hielt die innere Polyphonie nicht mehr aus und geriet in den Schlund der Depression. Ich war von dem 24/7-Terror in meinem Kopf schlicht und ergreifend wahnsinnig geworden. Meine Existenz verklumpte sich zu jener Mischung aus Erschöpfung und Unruhe, die jede/r Depressive kennt. Aber das Protokoll davon wäre ein anderer Text. Nur so viel: Ich entkam den tiefsten Tiefen und kämpfe weiter gegen die sinnlosen Sounds, die immer da sind und immer da sein werden.
Das Mitgefühl
Als ich für die Infusionstherapie im Krankenhaus war, erzählte mir ein Bekannter, dass er „das“ nach einem Death-Metal-Konzert auch mal gehabt habe. Diese Reaktion begegnet mir immer wieder. Jeder hat selbst seine Erfahrung mit Tinnitus gemacht oder kennt jemanden, der einen akuten Tinnitus hatte oder einen chronischen Tinnitus hat. Mein Leiden ist nicht einzigartig, so die Message. Es mag ungerecht klingen, aber was als Geste der einfühlsamen Solidarität gemeint ist (Du bist nicht allein!), klingt in meinen rumorenden Ohren wie blanker Hohn. Die Solidaritätsgesten kommen mir vor, als würde man einem nach einem Unfall Querschnittsgelähmten zum Trost sagen: „Ich hatte auch einmal das Bein gebrochen.“ Meine Qualen werden kleingeredet. Obwohl ich ja weiß, dass jeder durch seine eigene Hölle geht und jedes individuelle Leid subjektiv ein absolutes ist.
Info
Eine ungekürzte Version des Textes erschien bei „Tegel Media“, Label für Content
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