Analytisch Abgründiges

Verlorene Mitte Jeder zweite Deutsche hat Ressentiments gegen Asylsuchende“ (Spiegel-online, 25.04.2019)

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Wie der Gesellschaft die Mitte verloren geht" (Süddeutsche Zeitung. 25.04.2019)

"Verlust demokratischer Orientierung“ (Tagesschau, 25.04.2019)

„Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung: Zunehmend ablehnende Haltung gegenüber Asylbewerbern“ (ARD-Nachtmagazin,26.04.2019)

Verlorene Mitte – Feindselige Zustände Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19“ ist der vollständige Titel einer Studie, die es zwischen dem 25. und 26. April geschafft hat. einen medialen Sturm im Wasserglas zu erzeugen.

Der eigentliche Inhalt der Studie soll im Folgendem versucht werden etwas genauer darzustellen, als es die o.g. Überschriften vermögen.

Dass die absolute Mehrheit der hier um Asyl nachsuchenden Menschen nicht aus Gründen politischer Verfolgung, sondern aus anderen Gründen Schutz erhalten, ist eigentlich unbestritten. In der genannten Studie wird das jedoch umstandslos zum Ausdruck von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, wenn der Aussage zugestimmt wird, dass die meisten Asylbewerber in ihrem Heimatland gar nicht politischer Verfolgung unterliegen.

Dabei wird von den Machern der Studie die Wirklichkeit, wie sie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aktuell selbst dargestellt wird, unter den Generalverdacht gestellt, selbst Ausdruck bzw. Teil eines rechten Weltbildes zu sein. Bezöge man sich auf den Umstand, dass im Jahr 2019 bis zum März dieses Jahres 1,2 Prozent, mithin von 59.233 Menschen nur 701 als Asylberechtigte nach Artikel 16a GG anerkannt wurden, man ginge wohl glatt als Rechtsradikaler durch, wenn man folgendes liest: „Noch stärker geteilt sind negative Vorurteile, wenn es um Asylsuchende geht. Zwischen 44,2–28,2 % stimmen zu, dass die meisten Asylbewerber in ihrem Heimatland gar nicht verfolgt werden und zwischen 74,5–62,4 % der Befragten lehnen es ab, dass der Staat bei der Prüfung von Asylanträgen großzügig sein sollte. Rund ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung teilt diese Einstellungen teils/teils“ (Studie S. 68, Kapitel 3 Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit) und an anderer Stelle heißt es zum gleichen Aspekt: „Die Abwertung von asylsuchenden Menschen stabilisiert sich in 2018/19 weiter auf hohem Niveau, bzw. steigt in Teilen an. Während in 2016 noch 49,5 % negative Aussagen gegenüber asylsuchenden Menschen vertraten, sind es in 2018/19 54,1 % der Deutschen. Dies ist der höchste in unseren Studien je gemessene Wert, seit wir im Jahr 2011 zum ersten Mal die Meinungen über Asylsuchende erhoben haben. Im Gegensatz zum traditionellen Rassismus und der klassischen Fremdenfeindlichkeit scheint sich hier eine Verhärtung der Debatte über das Thema >Asyl und Flüchtlinge< deutlich auszudrücken“ (a.a.O., S. 80). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im März dieses Jahres eine Gesamtschutzquote für alle Staatsangehörigkeiten im bisherigen Berichtsjahr 2019 von 37,9 % (22.457 positive Entscheidungen von insgesamt 59.233) angegeben. Je nach Interpretation heißt das, dass entweder 98,8 Prozent bzw. 62,1 Prozent in ihrem Heimatland nicht verfolgt werden. Wenn die bloße Bezugnahme auf die bundesrepublikanische Realität im Umgang mit dem Asylrecht dazu führt, dass man der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit anhängen soll, dann wird es einfach absurd. Diese zeigt sich auch an anderen Stellen der Studie. „Die neue Allianz des >Widerstands gegen Eliten<, das unterstellte >Meinungsdiktat< und andere Verschwörungen erweisen sich im Nachhinein aber nicht nur als neue Bewegung. Sie erweisen sich auch als ein Widerstand gegen den sozialen Wandel der Gesellschaft, der ganz grundsätzlich zur Demokratie gehört“ (Studie S. 21).

Nun wird sicherlich niemand bestreiten, dass der Wandel zur Dynamik moderner Gesellschaften dazugehört. Fraglich hingegen dürfte sein, dass es weiterhin Ausdruck dieses Wandels ist, dass die Umbrüche in der Produktivkraftentwicklung auch künftig mindestens in dem Umfang Jobs schaffen werden, wie auf der anderen Seite verloren gehen. Bedenkt man dann noch, dass das deutsche Jobwunder eines ist, dass in der Breite darauf beruht, dass die Anzahl von Teilzeitbeschäftigten extrem zugenommen hat, dann weiß man, dass man sich mitten im Feld der Sozialpolitik bewegt.

1991 gab es noch 35,2 Mio. beschäftigte Arbeitnehmer insgesamt, im Jahr 2016 waren es 4,1 Mio. mehr. In diesem Zeitraum sank die Wochenarbeitszeit aller Beschäftigten von im Schnitt 35 auf 30 Stunden. Die Teilzeitquote stieg seither kontinuierlich von 17,9 Prozent auf 39 Prozent in 2016an und somit auch der Anteil sog. prekär Beschäftigter, der stark zunahm. Deutlich wird,dass diese Umstände, wie auch die damit korrespondierenden Umverteilungen von Vermögen, zugunsten der Vermögenden keine Rolle spielen soll. Im Gegenteil.Vielmehr soll Kritik an der Dynamik des Wandels als potentiell rechts adressiert werden und diejenigen, die am stärksten wirtschaftlich unter dieser scheinbar naturwüchsigen Entwicklung leiden, sollen in allen Phänomen ihrer Widerständigkeit auf das Momentum der rückwärtigen Orientierung reduziert werden. Dabei dient die Solidaritätsidee mit den gesellschaftlich Schwachen aber gerade nicht der Solidarität mit den gesellschaftlich integrierten Ärmsten, sondern diese werden im Gegenteil selbst als Feind adressiert, indem man sie als überwiegend reaktionäre Privilegien-Verteidiger*innen beschreibt: „Es gibt Personen, die aus einer progressiv-kritischen (linken) Haltung heraus Eliten kritisieren, Widerstand fordern oder Meinungsfreiheit einfordern, der größere Teil tut dies aber aus einer reaktionären Haltung heraus, die sich ihrer Privilegien beraubt sieht, sich gegen Minderheiten und Gleichstellung wendet und völkische Positionen vertritt“ (Studie, S. 170).

Nun soll gar nicht bestritten werden, dass sich „im Rechtspopulismus …diese Verteidigung überkommener Privilegien durch die Abwertung der jeweils anderen aus“drücken kann (Studie, S. 200), aber nicht jedes Bestehen auf Besitzstände ist „das Einklagen von Privilegien, um die das >Volk< de facto oder vermeintlich betrogen wird“ (a.a.O), und Elitenkritik ist mehr als berechtigt. Man müsste sich hierfür nur einmal oberflächlich mit den sog. Bankenrettungen ab 2008 beschäftigen, die nicht nur bei der HSH-Nordbank zeitgleich mit dem Anlaufen staatlicher Unterstützungen mit kriminellen Raubzügen gegen die Finanzämter im Zuge von Cum/Ex und Cum/Cum-„Geschäften“ einhergingen. Die Studie übergeht diese gesellschaftlichen Entwicklungen mehr oder weniger bzw. erwähnt sie so: „Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise sind radikale Stimmen und Kräfte lauter und einflussreicher“ (Studie, S. 15) und: „Schon nach der Wirtschafts- und Finanzkrise deutete sich eine >Verrohung< an“ (Studie, S.17). Hier wird die Wirklichkeit mal kurz von den Füßen auf den Kopf gestellt. Nicht die Verrohung des Systems angeblicher sozialer Marktwirtschaft wird thematisiert. Immerhin wurden die staatlichen Transfers in Richtung der vermögendsten Teile der Gesellschaft geleitet, sondern die ohnmächtige Wut hierauf wird als Verrohung wahrgenommen.

Hier reiht sich diese Studie perfekt in die Politik derjenigen ein, die den Armen der Gesellschaft empfiehlt, sich mit Mindestsicherungen wie Hartz IV zufrieden zu geben und sich mit den Armen in den ärmeren Ländern zu vergleichen, um ein höheres Maß an eigener Zufriedenheit zu erlangen. DieBrotkrumen vom Tisch der sich dynamisch wandelnden kapitalistischen Gesellschaft, werden so zu Privilegien und in der Folge zu Verlust- und Abstiegsängsten,„die zugleich beinhalten, Erworbenes und auch überkommene Privilegien zu verlieren“ (Studie, S. 268). So steht die Welt perfekt auf dem Kopf. Nicht die durch die Eigentumsgarantie des Staates perfekt abgesicherten Begünstigten der herrschenden Ordnung sind die Verteidiger*innen von Privilegien, sondern ihre Opfer, weil diese sich an das Wenige klammern, dass ihnen noch zugestanden wird.

So ist es auch kein Wunder, dass „die Forderung nach nationaler Rückbesinnung weg von der Europäischen Union, zumindest ihrer Schwächung“ (Studie, S.173) im Zusammenhang mit Rechtspopulismus im Übergang zum Extremismus diskutiert wird und nicht mit der herrschenden Politik, die jederzeit Europa als Projektionsfläche für Bürokratie und Gängelung bemüht, wenn es in den nationalen Kram passt.

Die herrschende Europafeindlichkeit, die man jederzeit besichtigen könnte, wenn man sich den Wahlkampf der „Europa - Enthusiasten“ anschaut, der auf jede inhaltliche Aussage verzichtet und der vor allem da seinen Konsens hat, wo es um die Verhinderung sozialer Angleichungsmechanismen innerhalb der Union geht. Auch die - mittlerweile gescheiterte - Strategie der weitgehenden Schonung der deutschen Automobilindustrie, bei der CO2/Feinstaub/Stickoxide-Reduktionspolitik der EU beweist, dass das Bekenntnis zu Europa so ernst gemeint ist, wie der Gedanke internationaler Solidarität. Beides dient primär zur Adressierung jedweder, tendenziell systemkritischer Ansätze als rechts, weil der „Wandel der Gesellschaft, .. ganz grundsätzlich zur Demokratie gehört“ (Studie S. 21), mithin jede Gegenwehr irgendwie reaktionär sein muss.

Für die Etablierung dieser Sichtweise ist man bisweilen auch zu Opfern bereit und um über den partizipativen Ausschluss fast eines ganzen Kontinents von der Dynamik des Marktes nicht sprechen zu müssen, feiert man die hierdurch erzwungene Ausblutung an humanen Ressourcen als ein Akt der Solidarität und schickt Schiffe, um der Menschlichkeit eine Brücke zu bauen.

Um nicht falsch verstanden zu werden, Mensch vor dem Ertrinken zu retten, ist ein humanitärer Akt. Aber er beinhaltet eben auch andere Aspekte, deren Leugnung der Etablierung eines völlig absurden Narrativs dienen soll. In diesem Zusammenhang und nur in diesem, soll der Nationalstaat in die Globalisierung aufgehoben werden und die Idee der Souveränität - bezogen auf die Kontrolle von Grenzen - zu einer reaktionär, nationalistischen Vorstellung verschwimmen. Entweder das, oder es wird gleich vollständig geleugnet, dass faktisch Grenzen geöffnet wurden, als zeitweise auf die Anwendung vereinbarter Regeln - Dublin III Abkommen (https://de.wikipedia.org/wiki/Verordnung_(EU)_Nr._604/2013_(Dublin_III)) - verzichtet wurde. So wird in der Studie ernsthaft gefragt: „Oder sind viele Ostdeutsche Opfer einer von rechts angetriebenen Agitation, der zufolge Grenzen für Flüchtlinge geöffnet worden seien und dies ein Rechtsbruch gewesen sei?“ (Studie, S. 250).

Das Gefährliche an solchen Studien ist ihre unendliche Bräsigkeit sich selbst und ihren methodischen Ansätzen gegenüber. Wichtig ist, dass man einen Weg findet, rechte Einstellungen messbar zu machen und dass dabei eine Zunahme an rechten Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft festgestellt werden kann. Darüber ist dann bereits die nächste Studie abgesichert. Gäbe es von rechts keine Gefahren, könnte man das als Konjunkturprogramm für Sozialforscher sicherlich leicht ertragen. Es diente ja zweifellos einen guten Zweck. Nun gibt es aber durchaus Gefahren und die hängen mit Ideen von starker Führung, aber auch Antipluralismus, Tabuisierung von falschen Meinungen, Einhegung von Diskursen usw. zusammen. Die Gefährdung einer offenen Gesellschaft geht heute keineswegs nur von rechten Ideen und Personen aus.

So hat der Deutsche Hochschulverband auf seinem 69. DHV-Tag am 9. April zurecht festgestellt: „Die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sinkt. Das hat auch Auswirkungen auf die Debattenkultur an Universitäten. Die insbesondere im anglo-amerikanischen Hochschulraum zu beobachtende Entwicklung, niemandem eine Ansicht zuzumuten, die als unangemessen empfunden werden könnte, verbreitet sich auch in Deutschland. … So fühlen sich einige Studierende schon verletzt, wenn an einer Universität eine Professorin bzw. ein Professor oder eine öffentliche Person mit Thesen auftritt, die der eigenen (politischen) Auffassung zuwiderlaufen“. Er stellt fest: „Damit ist unvereinbar, dass sich in letzter Zeit Ausladungen von Personen häufen, die vermeintlich unerträgliche Meinungen vertreten“.

So lässt sich feststellen, dass die Adressierung als „menschenfeindlich“ bzw. in sozialwissenschaftlichen Studien „GMF“ - gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit - häufig vor allem der Diskursverweigerung dient, indem sich moralisch aufgeplustert wird und eine Debatte als Aufwertung der (menschen)feindlichen Position gilt. Mithin wird das, was Jahrzehnte und Jahrhunderte als Ausweis des Linkssein galt, nämlich keiner Debatte aus dem Weg zu gehen und sich Problemen analytisch zu nähern und über die kritische Debatte Erkenntnisgewinne zu generieren, zunehmend durch bräsiges moralisieren diskreditiert wird. Stattdessen freut und feiert man sich, weil sehr viele Menschen viel lieber moralisch überlegen, als intellektuell fleißig sind . So sägt man nicht ohne Erfolg an dem Ast, auf dem die Linke einmal saß und macht sich so selbst überflüssig.

Linkes Denken hat mindestens zwei Apriori. Erstens, die Parteilichkeit für die, die man in einer Gesellschaft ökonomisch benachteiligt und um Lebenschancen und Teilhabe bringt und zweitens, die Ableitung der richtigen Gedanken aus der möglichst genauen Analyse der gesellschaftlichen und ökonomischen Situation.

Die Lust am Denken, gehört zum Linkssein so essentiell dazu, wie der Gedanke der Solidarität, als ein vernünftiges Handeln auf Gegenseitigkeit, um die Gesellschaft und die Welt lebenswerter zu machen.

Jeder der das behindert und auch noch den kapitalistischen Wandel der Gesellschaft hin zu oligopolen Strukturen, als eine demokratische Dynamik abfeiert, fördert, was er zu bekämpfen vorgibt.

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