Jammerlappen

Sozialismus Wenn der Kapitalismus mit einer ihn negierenden Idee konfrontiert wird, ist nicht Wettbewerb, sondern Weheklagen angesagt. Jedenfalls bei seinen vermeintlichen Freunden.

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Thomas Sigmund ist Ressortchef Politik des Handelsblatts. Dass das keine Garantie gegen hysterischen Alarmismus ist, zeigt ein Leitartikel unter der Überschrift Gefährliche Gedankenspiele vom 03. Mai. Wie vor ihm vielen anderen, fallen ihm zu Kevin Kühnert und seiner Beantwortung der Frage, wie dieser sich Sozialismus vorstelle, vor allem 30 Jahre Mauerfall, die DDR, die Stasi und 40 Jahre DDR-Diktatur ein.

Zugleich rührt er in dieses Gewitter von gedankenschweren Sätzen, die Sozalisierungsdebatte um Wohnungsunternehmen in Berlin ebenso ein, wie Robert Habecks Eingeständnis, er könne sich Enteignungen zum Zwecke der Bebauung unbebauter Grundstücke vorstellen. Klar, dass dann auch schon Baugebote durch Boris Palmer, wie in Tübingen, dem Redakteur als Vorboten des Sozialismus erscheinen.

An alledem soll der kleine Kevin nun Schuld sein. Einem Vorsitzenden der Jugendorganisation einer Partei, die im Bund mit der AfD um Platz 3 im bundesdeutschen Parteiensystem kämpft. Der Partei, die Hartz IV ebenso verantwortet, wie die Deregulierung der Finanzmärkte in Deutschland.

Thomas Sigmund befürchtet nun, dass „die Argumente der Eigentumsfeinde“ offenbar nicht jeder so wie er, umstandlos als das entlarven was es seiner Meinung nach ist: „Sozialpopulismus“. Er findet schlimm „dass Demokratie und Soziale Marktwirtschaft in Teilen der Bevölkerung an Unterstützung verlieren“. Dafür hat er nun einen Hauptschuldigen ausgemacht: „Politiker wie Kühnert“.

Das sieht auch der Gesamtbetriebsratschef von BMW, Manfred Schoch, ähnlich und kritisiert den Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert wegen dessen Aussagen über eine Kollektivierung von BMW scharf. „Für Arbeiter deutscher Unternehmen ist diese SPD nicht mehr wählbar“, vertraute Schoch der WirtschaftsWoche an. Es sei ihm „unbegreiflich“, so Schoch, „wie Herr Kühnert so über BMW sprechen kann“.

Bei kaum einem anderen Unternehmen in Deutschland seien die Arbeitsplätze so sicher und gut bezahlt, die Renten so hoch und die Arbeitsbedingungen und die Arbeitszeitmodelle so fortschrittlich wie bei BMW. Mit der Familie Quandt habe BMW einen Großaktionär, „der anders, als etwa im amerikanischen Kapitalismus, nicht die kurzfristigen Gewinninteressen in den Vordergrund stellt, sondern die langfristige Stabilität“. Deshalb baue BMW Elektromotoren selbst, montiere auch die Batterien für E-Autos selbst und stelle hunderte Mitarbeiter für den Umstieg auf das Elektroauto ein“ (WiWo, 03.05.2019).

Ob Schoch ein Freund von Sven Quandt ist, ist nicht überliefert. Verstehen würden sich beide prächtig: "Wir haben ein Riesenproblem in Deutschland, dass wir nie vergessen können. In der Familie, und wir, haben über die Themen oft genug gesprochen. Wir finden es aber schade, denn es hilft Deutschland unheimlich wenig weiter. Je mehr wir an das, an dieser Stelle im Prinzip, dadrüber nachdenken und je mehr daran erinnert werden, alle, genauso wird man im Ausland daran erinnert. Und wir müssten endlich mal versuchen, das zu vergessen. Es gibt in anderen Ländern ganz ähnliche Dinge, die passiert sind, auf der ganzen Welt. Da redet keiner mehr drüber und es hat auch keinen Negativ-Touch. Bei uns hat es immer den Negativ-Touch.“ (Einlassungen von Sven Quandt in der NDR Dokumentation „Das Schweigen der Quandts“ von September 2007 ab Min. 11:05). Das Manfred Schoch in seinen Einlassungen gegen Kühnert und die SPD sich traut Quandt zu erwähnen und die Montage von Batterien anzusprechen, ist schon eine besondere Qualität in Geschichtsvergessenheit. Im Akkumulatorenwerk der Quandts in Hannover-Stöcken mussten Zwangsarbeiter im sog. III. Reich ohne jede Schutzkleidung arbeiten und waren dabei den giftigen Gasen der Schwermetalle Blei und Cadmium ausgesetzt, was zu vielen Todesfällen führte. Die Autoren der erwähnten NDR-Dokumentation verwiesen auf eine interne Berechnung von Günther Quandt, die von 80 toten Zwangsarbeitern pro Monat ausgingen. Mit anderen Worten und zurück in der Gegenwart: Mit der Familie Quandt hat BMW einen Großaktionär, dessen Interesse an langfristiger Stabilität auf den Knochen von Zwangsarbeitern aufgebaut ist.

Vor 72 Jahren haben u.a.diese Erfahrungen die CDU in NRW dazu gebracht, ihr Programm so beginnen zu lassen: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“

Heute sieben Jahrzehnte später, spielt weder das Wohl des Volkes noch der Menschheit eine bedeutende Rolle. Die Sozialtransfers von Bedeutung gehen in die Taschen der Reichen. Statt Menschen vor Armut, rettet der Staat die Banken und die danken es ihm, indem sie zusätzlich Raubzüge gegen die Steuerkassen führen und sich Steuern erstatten lassen, die sie niemals gezahlt haben (vergl. Die Bankenrepublik).

Wenn also die Freunde des Kapitalismus wie Sigmund wortreich bedauern, „dass Demokratie und Soziale Marktwirtschaft in Teilen der Bevölkerung an Unterstützung verlieren“, dann sollten sie dafür nicht den Juso-Bub Kühnert verantwortlich machen, sondern diejenigen, die sich ohne Skrupel leistungslos den Umstand zu nutze machen, dass der Staat seine Rolle als regelndes und regulierendes System zunehmend schwänzt und sich dem Willen der stärksten und rücksichstlosesten Akteuren am Markt unterwirft, statt umgekehrt diese Marktteilnehmer seinen Regeln zu unterstellen.

Wenn der artikulierte Wille, dass die Interessen von wenigen Privateigentümern im Zweifel gegenüber dem Interesse der Vielen nachrangig zu sein hat, nicht mehr vernünftig diskutiert werden kann, dann ist es um die Leistungsfähigkeit des Kapitalismus aus Sicht der bekennenden Freunde offenbar sehr schlecht bestellt. Im Gegensatz zu den Ideologen des Kapitalismus versuchen Leute wie Kühnert, Habeck oder Palmer die Funktionsfähigkeit des Systems dadurch aufrecht zu erhalten, dass sie entweder praktische Vorschläge machen, oder aber das System mit gesellschaftlichen Anforderungen bzw. einer anderen Idee von Wirtschaft konfrontieren. Da geht es nicht um Revolution und die Expropriation der Expropriateure, sondern momentan bestenfalls um einen Einwand gegen die Vorstellung, dass mit dem Kapitalismus das Ende der Geschichte erreicht sei.

Das hysterische Reagieren von Seeheimern, Handelsblatt-Politikredakteuren, BMW-Betriebsratsvorsitzenden und anderen Geistesgrößen lässt jedenfalls Böses vermuten. Wenn schon die größten Fans des Kapitalismus beim Erscheinen einer kleinen Maus auf die Tische springen und ein ungeheures Geschrei anstimmen, dann möchte man nicht wissen, was passiert, wenn dereinst mal Leute auf der Bildfläche auftauchen, die nicht nur spielen wollen.

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