Ressource Kind

Kinderarmut Der demografische Wandel macht es möglich. Kinderarmut wird als Problem in der neuesten sog. Bertelsmann Studie - tatsächlich IAB-Studie - erkannt.

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Torsten Lietzmann und Claudia Wenzig vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Forschungsbereich „Panel Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung“ haben nun im Auftrag der Bertelsmannstiftung eine kleine Studie zur Kinderarmut vorgelegt. Sie trägt den schlichten Titel „Materielle Unterversorgung von Kindern“ und stellt zum Schluss auch fest: „Ziel sollte sein, faire Chancen für alle Kinder zu gewährleisten“.

Das IAB ist ein Institut der Bundesagentur für Arbeit, mit dem diese Arbeitsmarkt- und Berufsforschung betreibt. Wenn man so will ,stammt die von der Bertelsmann-Stiftung beauftragte kleine Ausarbeitung aus dem Zentrum der Anwendung des SGB II. Besser bekannt als Hartz IV oder ALG II. Das ALG II wurde zum 1. Januar 2005 durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt eingeführt und langsam dämmert es, dass mit der zugrundeliegenden Ideologie des „Fordern und Fördern“ den Kindern der zur Umerziehung vorgesehenen Erwachsenen kein großer Gefallen erwiesen wurde.

Das war solange kein Problem, wie soziale Segregation erwünscht oder zumindest doch billigend in Kauf genommen wurde. Das ist aber heute nicht mehr der Fall, wo regelmäßig Ausbildungsplätze mangels ausreichender Anzahl von geeigneten Bewerber:innen unbesetzt bleiben müssen. Dem demografischen Wandel gesellt sich das Phänomen hinzu, dass viele Jugendliche nicht ausbildungsreif die Schulen verlassen. Das Phänomen „Sozialhilfe in xter Generation“, dass früher nur achselzuckend zur Kenntnis genommen wurde, wird nun zum Luxus, den sich die Wirtschaft nicht weiter leisten möchte und kann. Die Ressource ist zu wertvoll, als dass man sie dem armutsproduzierenden und erhaltenden Selbstlauf überlassen dürfte.

Was also läge näher, als das System „Hartz IV“ auf den Prüfstand bzw. gleich um zu stellen: von Fordern auf garantierte Grundsicherung und ein Anreizsystem, dass Anstrengung zum rationalen Akt machen und damit direkt aufs Wollen abzielen würde. Aber Gemach, so schnell geht das nicht und so rücken die Kinder, um die es schließlich in Bezug auf die Zukunft geht, in den Mittelpunkt der Betrachtung.

Ausgelöst durch neuere Forschungsliteratur zur quantitativen Messung der materiellen Deprivation. Bei ihr „liegt ein Fokus auf dem Aspekt der Ressourcenallokation innerhalb eines Haushalts und welche geschlechtsspezifischen und intragenerationalen Unterschiede im Lebensstandard bestehen. Dabei wird von der Grundannahme abgerückt, dass für alle Personen innerhalb eines Haushaltes der gleiche Lebensstandard unterstellt werden kann. Es wird vielmehr deutlich gemacht, dass sich die Bedarfe und der Lebensstandard von Kindern und Erwachsenen unterscheiden können, sogar innerhalb eines Haushalts. So zeigen beispielsweise deskriptive Auswertungen der EU-SILC-Daten, dass in Deutschland insgesamt 11 Prozent der Haushalte (Erwachsene und/oder Kinder) wegen finanzieller Gründe auf regelmäßige Freizeitaktivitäten wie Kino, Konzerte, Sport, Vereinsmitgliedschaften verzichten müssen. Da in EU-SILC ausgewählte Deprivationsitems sowohl auf Haushalts- wie auch Personenebene erhoben werden, kann man die Unterversorgungslage noch differenzierter betrachten: Insgesamt in 4 Prozent aller Haushalte müssen sowohl Kinder als auch Eltern auf ihre regelmäßigen Freizeitaktivitäten verzichten und in 7 Prozent der Haushalte verzichten ausschließlich die Erwachsenen, aber den Kindern wird es ermöglicht regelmäßige Freizeitaktivitäten wahrzunehmen (EU-Statistic, 2020)“ [(Hervorh. a.o.) Lietzmann/Wenzig, Materielle Unterversorgung von Kindern in der Grundsicherung, 18].

Es gibt also im Bereich der Bezieher:innen von Hartz IV nicht nur die Eltern, die ihren Kindern schlechte Vorbilder sind und sie ohne Frühstück und gezwungenermaßen zur Schule gehen lassen, sondern auch solche, die selbst verzichten, damit die Kinder etwas bessere Bedingungen haben, als es das System von Hartz IV für sie vorgesehen hat.

Deswegen finden es Lietzmann/Wenzig auch zielführend „die Situation von Familien, die trotz Erwerbstätigkeit armutsgefährdet oder leistungsbeziehend sind, genauer zu analysieren“. Insbesondere auch, weil „durch die Corona-Pandemie geprägten - Situation mit Schulschließungen und Unterricht zu Hause (..) dabei ein geeigneter Lernort zu Hause als besonders wichtig in den Vordergrund (rückt)“(a.a.O., 24).

Beide meinen, dass die von ihnen gefundenen „Ergebnisse zeigen, dass es durchaus die Tendenz gibt, dass Haushalte (auch solche in der Grundsicherung), die bestimmte Güter und Aktivitäten nicht für alle Haushaltsmitglieder zur Verfügung haben, diese zu einem substanziellen Teil zumindest für die Kinder bereitstellen können“ (a.a.O., 23). Das passt dann auch genau mit dem von Anette Stein, Direktorin des Programms „Wirksame Bildungsinvestitionen“ in der Bertelsmann Stiftung erwarteten Ergebnis bzw. der von der Bertelsmann Stiftung und ihr seit zwei Jahren promoteten Teilhabegeld für Kinder. Nun dreht sich die Sache um und aus der Studie, die tatsächlich bestenfalls eine Werbeschrift für weitergehende Forschung ist, soll lt. Abendblatt folgen: „Stein empfiehlt eine eigenständige finanzielle Absicherung für Kinder und Jugendliche. Diese sollte eine normale oder durchschnittliche” Kindheit und Jugend ermöglichen und nicht lediglich ein Existenzminimum zusichern. Die Zahlung sollte im Rahmen einer Kindergrundsicherung oder eines Teilhabegelds erfolgen“ (HA, 28.07.2020).

Spannend ist, dass der hochtrabende Gedanke, der von der Bertelsmann Stiftung wie gesagt schon länger verfolgt wird bei Insa Tietjen von der Linken gut anzukommen scheint, zumindest wird es im besagten Abendblatt-Artikel behauptet, während es an Silke Seif, familienpolitische Sprecherin der CDU-Bürgerschaftsfraktion ist, Bedenken zu formulieren die man gemeinhin von der Linken erwartet hätte. Sie sagt: ‟Dass die Zahl der von Armut betroffenen Kinder in Hamburg in den letzten Jahren trotz der guten Wirtschaftslage stagniert, ist erschreckend. Mit der Corona-Pandemie wächst nun die Zahl der Eltern, die Hartz-IV-Leistungen beantragen müssen, und somit auch die Kinderarmut. Trotzdem wären die Probleme mit einem Teilhabegeld oder einer Grundsicherung für Kinder nicht gelöst.’ Die Armut bestehe, weil die Eltern oft keine oder keine qualifizierte Arbeit hätten“ (a.a.O.).

Zwar ist der Einwand nicht besonders gut belegt, aber der Hinweis auf die Eltern und deren Armut, mit der Art der Arbeit oder Nichtarbeit in Verbindung zu bringen, ist schon sachdienlich. Wie will man sich vorstellen, dass in einem Familiensystem der jüngste Teil wirtschaftlich privilegiert wird, während die Eltern materiell dort verbleiben wo sie jetzt sind. Schon jetzt dürfte es für Kinder ein riesiges Problem sein, zu sehen, wie sich die Eltern einschränken, um ihnen mehr Teilhabe zu ermöglichen. Hier die Familien besser auszustatten, ist sicherlich richtig. Es ist aber mehr als fragwürdig, dies über die ökonomische Stärkung von Kindern zu tun. Natürlich sollen die Kinder der Grund sein, aber die Eltern bleiben die Entscheider über den Umgang mit Familieneinkommen. Das schließt ja nicht aus, dass man im Bildungssystem selbst Fördermöglichkeiten eröffnet, die besonders den Kindern einkommensschwacher Familien zugute kommen.

Wer die Kinder aus armen Familien fördern will, der wird nicht umhin kommen Familien zu fördern und zu unterstützen. Die Familie ist das System, das maßgeblich die Kinder prägt und dass Eltern das Wohl ihrer Kinder wichtig ist, hätte man auch ohne spezifische Datenerhebung wissen können. Für Familien im Hartz IV-System ist es nur ungleich schwieriger, hierfür die materiellen Mittel zusammen zu bringen. Noch schwieriger ist es, sich selbst in einer Rolle zu sehen, in der sie für ihre Kinder Vorbild sein können. Dies umso mehr, wenn sie selbst keiner Tätigkeit nachgehen können.

Nun kann zwar der Staat für diese Zielgruppe keine Jobs in regulären Wirtschaftsunternehmen erzwingen, aber er könnte einen gemeinwohlorientierten Arbeitsmarkt schaffen, indem bislang vernachlässigte kommunale Aufgaben zu Bedingungen des Mindestlohns und sozialversicherungspflichtiger Arbeit erledigt würden. Freiwillig und niedrigschwellig.

Für die Kinder könnten in den Dörfern, Städten und Stadtteilen Lernbüros“ entstehen. Dort gäbe es dann gut ausgestattete Arbeitsplätze mit Computern und schnellem Internetzugang, kleine Bibliotheken und Teeküchen und vor allem erwachsene Ansprechpartner:innen für Probleme in Schule und Elternhaus.

In einem solchen Umfeld wäre dann auch ein „Teilhabegeld“ gut angelegt, das das Einkommen von Familien mit Kindern deutlich erhöhen würde.

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