Die Integrationsverweigerer

Arbeitsmarktintegration Durch restriktive Auslegungen der Mitwirkung bei der Identitätsklärung hindern Innenministerien und Ausländerbehörden geduldete Flüchtlinge an der Arbeitsaufnahme

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Angekommen: Ein Geflüchteter in einer Bäckerei in Reutlingen
Angekommen: Ein Geflüchteter in einer Bäckerei in Reutlingen

Foto: Thomas Niedermueller/Getty Image

In Deutschland lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Dezember 2017 166.740 Personen mit dem aufenthaltsrechtlichen Status einer „Duldung“. Nach dem deutschen Ausländerrecht bedeutet der Status Duldung eine „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“ von „ausreisepflichtigen“ Ausländerinnen und Ausländern. Geduldete haben nur einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt. Bevor sie eine Arbeit aufnehmen können, müssen sie eine Genehmigung zur Ausübung einer Beschäftigung bei einer Ausländerbehörde einholen. Die Ausländerbehörde entscheidet im jeweiligen Einzelfall, ob eine entsprechende Genehmigung erteilt wird. Teilweise muss dabei die Bundesagentur für Arbeit (BA) über eine Online-Anfrage in die Entscheidungsfindung einbezogen werden („Arbeitsmarktprüfung“). Für jede neue Beschäftigung und jeden Arbeitgeberwechsel muss bei der Ausländerbehörde ein neuer Antrag gestellt werden. Die Bearbeitungszeit beträgt, erklärt uns exemplarisch eine hessische Ausländerbehörde per Mail, „in der Regel mindestens 3-4 Wochen. Dies bedeutet einen sehr hohen Arbeitsaufwand für die Ausländerbehörden und die BA. Oft sind die begehrten Arbeitsplätze bis zur Entscheidung der Ausländerbehörden bereits an andere Personen vergeben. Es folgt dann ein neuer Antrag für einen anderen Arbeitgeber. Dies erschwert die Teilhabe am Arbeitsmarkt.“ Derweil prognostizieren verschiedene Institute bis zum Jahr 2030 einen erheblichen Mangel an Arbeitskräften (sog. „Fachkräftelücke“). Union und SPD legten daher im Koalitionsvertrag fest, dass Deutschland ein Einwanderungsgesetz brauche. Damit könnte abgelehnten Asylsuchenden ein sogenannter „Spurwechsel“ vom Asylrecht in ein Einwanderungsrecht ermöglicht werden. In eine ähnliche Richtung weist die deutsche Gesetzgebung bereits mit der „3-plus-2-Regelung“, auch Ausbildungsduldung genannt, die einen Aufenthalt für die Dauer der Ausbildung und – sofern anschließend eine ausbildungsadäquate Beschäftigung gefunden wird – weitere zwei Jahre ermöglicht. Ziel der Regelung war es, Planungs- und Rechtssicherheit für ausbildendende Betriebe zu schaffen.

Entgegen der in den Debatten um das Einwanderungsgesetz sichtbar werdenden arbeitsmarktzentrierten Perspektive setzen Teile der deutschen Innenministerien und Ausländerbehörden weiterhin in erster Linie auf Abschottung, Ausgrenzung und Abschiebungen. Ihre integrationsfeindliche Generallinie wird unter anderem in den Anwendungshinweisen des Bundesinnenministeriums zur Duldungserteilung deutlich. „Da es sich bei Geduldeten um vollziehbar ausreisepflichtige Personen handelt“, heißt es dort lapidar, „muss der Fokus behördlicher Maßnahmen auch bei diesem Personenkreis primär auf die Durchsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht und die tatsächliche Rückkehr dieser Personen in den Herkunftsstaat gerichtet sein. Es ist nicht nur legitim, sondern auch geboten, auf eine Beendigung des Aufenthalts derjenigen hinzuwirken, die in Deutschland kein Aufenthaltsrecht haben.“ Das Beispiel der Pflicht zur Mitwirkung bei der Identitätsklärung im Zuge des Antrags auf Ausbildungsduldung zeigt, dass die Innenministerien und Ausländerbehörden in der Folge unter anderem einer restriktiven Auslegung ‚unbestimmter Rechtsbegriffe‘ bedienen, um den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren.[1] Unbestimmte Rechtsbegriffe zeichnen sich durch einen vagen, mehrdeutigen Inhalt aus und müssen daher interpretiert werden. Damit geht potentiell ein großer Ermessensspielraum für Behörden oder einzelne Sachbearbeitende einher. „Einem Ausländer“, heißt es in §60a Abs. 6 des Aufenthaltsgesetzes, der eine Duldung besitzt, darf die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht erlaubt werden, wenn „aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei ihm aus Gründen, die er selbst zu vertreten hat, nicht vollzogen werden können“. Dies gilt „insbesondere, wenn er das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben selbst herbeiführt“. „Der Ausländer“ wird daher verpflichtet „zumutbare[n] Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen“ Folge zu leisten und unter anderem an der Beschaffung eines Identitätsnachweises mitzuwirken. Betroffen sind davon unter anderem geduldete Flüchtlinge, die eine Ausbildungsduldung in Anspruch nehmen möchten.

Die Crux der Ausbildungsduldung, erzählt uns eine Mitarbeiterin einer Beratungsstelle in Baden-Württemberg, sei damit, „dass du dich abschiebbar machen musst. Also du musst alles dafür tun, dass du abgeschoben werden kannst. Du musst deine Geburtsurkunde beschaffen, deinen Pass, und den dann abgeben. Das ist unglaublich schwierig.“[2] Für Geflüchtete, die häufig negative Vorerfahrungen mit staatlichen Strukturen gemacht haben, ist der Prozess durch seine Unübersichtlichkeit mit Unsicherheit und Angst verbunden. Dass die Ausbildungsduldung im Anschluss tatsächlich gewährt wird, ist nicht immer garantiert, wodurch potentiell eine Abschiebung droht. Ein Ehrenamtlicher aus Baden-Württemberg erzählt uns von einem Beispiel: „Ich habe einen Fall, der hat mich sehr geschmerzt, den habe ich in Ausbildung gebracht für Werkzeugmacher. Dann hat das RP Karlsruhe verlangt, dass er Ausweispapiere beschafft und die haben ihn bedrängt, sonst geht das nicht mit der Ausbildung. Und dann ist er nach Berlin und ist auf die Botschaft und das kostet richtig Geld und dann hat er es geschafft und dann haben sie ihn abgeschoben. Zack. Sie sind in die Firma, weil da war er sicher zu finden, weil er auf der Arbeit war. Wir haben geglaubt, der hat einen Lehrvertrag und dann ist das damit erledigt. Landratsamt wusste es und so weiter. Überall war das bekannt, keiner hat da was gesagt: ‚aber sie müssen noch mal extra Ausbildungsduldung herbringen‘. Jetzt ist‘s mir auch klar, seitdem weiß ich das auch. Und dann habe ich die Polizei angerufen und wollte, dass das ausgesetzt wird: ‚nichts zu machen.‘“

Für einige Flüchtlinge sei es nicht möglich, einen Pass zu beschaffen, berichtet uns ein Mitarbeiter einer Beratungsstelle in Hamburg: „Die Ausländerbehörde verlangt ja die Mitwirkung bei der Nachweispflicht und jetzt geht es darum, dass man die Geburtsurkunde, in Afghanistan Tazkira genannt, vorlegt und die wiederum braucht einen Stempel, das heißt die Teilnehmer müssen nach Berlin fahren in die Botschaft und wir wissen aus Angaben der Teilnehmer, dass dort dem nicht immer nachgegeben wird. Also manchmal fahren Teilnehmer mehrfach nach Berlin und bekommen nicht den erforderlichen Stempel.“ In Afghanistan selbst sei nicht sichergestellt, dass es in jeder Region diese Art von Geburtsurkunde gibt. Es gebe Möglichkeiten, über Bezahlung schneller an einen Stempel zu kommen. Dies sei aber im Angesicht der Tatsache, dass die Asylbewerberleistungsvorgaben ein Taschengeld von unter 120 € vorsähen und sie davon schon die Hin- und Rückfahrt nach Berlin zahlen müssten, kaum zu leisten.[3] „Das ist natürlich eine Situation, von der Behörden wissen, aber gleichzeitig wird Druck gemacht, man muss diese vorlegen“, stellt er fest. „In Hamburg interpretiert man Mitwirkungspflicht bei der Ausbildungsduldung immer noch als ‚Der Pass muss da sein‘, wenn das erfüllt ist, dann gilt es“, ergänzt die Mitarbeiterin einer anderen Hamburger Beratungsstelle. Sie halte das für eine problematische Interpretation. „Wenn der Mitwirkungspflicht genüge getan ist und ich am Ende aber trotzdem nicht an einen Pass gekommen bin, ist mir das nicht negativ auszulegen“, kritisiert sie die Praxis der Hamburger Behörde in dieser Frage.[4] De facto wird durch die restriktive Handhabung die Ausbildungsduldung für einen Teil der potentiell Berechtigten außer Kraft gesetzt.

Andere Ausländerbehörden erteilen Geflüchteten mit Duldungsstatus – in rechtswidriger Art und Weise – sogar generell Arbeitsverbote, ohne zuvor über die Pflicht zur Mitwirkung bei der Identitätsklärung zu informieren. Von entsprechenden Fällen berichtet uns ein Mitarbeiter einer Beratungsstelle in Sachsen: „In Bautzen im letzten Herbst und auch in Meißen wurde uns klar, dass dort in der Regel gleich mit der Duldungserteilung absolutes Arbeitsverbot eingeschrieben wurde, was rechtswidrig ist. Man müsste wenigstens die Leute darüber aufklären, dass sie verpflichtet sind mitzuwirken. Und man müsste eine angemessene Zeit dafür bekommen, bevor man sanktioniert wird.“ Da im ländlichen Raum nur unzureichende Beratungsstrukturen vorhanden seien, gäbe es für die Geflüchteten kaum eine Möglichkeit, um gegen die rechtswidrigen Arbeitsverbote vorzugehen.

Dass pragmatischere Regelungen innerhalb der restriktiven gesetzlichen Rahmenbedingungen möglich sind, zeigt ein Beispiel aus Niedersachsen. Ein Mitarbeiter der Handwerkskammer vor Ort berichtet, dass die Ausländerbehörde ihren Ermessensspielraum in Bezug auf die Mitwirkungspflicht im Sinne von Betrieben und Geflüchteten nutze. Es reiche in der Regel aus, wenn ein Negativbescheid der jeweiligen Botschaft aufzeigt, dass es nicht möglich sei eine Geburtsurkunde bzw. Pass auszustellen. „Er muss einfach nachweisen, dass er sich bemüht hat, alles in seiner Macht Stehende getan zu haben, um einen Identitätsnachweis zu erhalten“, stellt er fest. „Wir haben hier keine Hardliner“, lobt er die kommunale Ausländerbehörde, „die immer diese Verweigerungsposition einnehmen, sondern wir gucken im Rahmen der gesetzlichen Grundlagen, das ist nun mal so, das ist unser Fundament, was rechtlich möglich ist.“ Auf dieser Basis würden im Rahmen der Ermessensspielräume Lösungen gesucht, die zielführend seien und einen Mehrwert sowohl für die Geflüchteten als auch für die Betriebe böten.

„Insgesamt erleben wir eine Verwaltungspraxis die - zum Teil in rechtswidriger Weise - die Abschiebediktion deutlich höher bewertet, als das Bemühen um Integration“, fasst der sächsische Flüchtlingsrat die Erfahrungen aus der Praxis mit der Umsetzung der Ausbildungsduldung in einer gemeinsamen Stellungnahme mit zahlreichen anderen Akteuren zusammen. [5] Es zeige sich, „dass die Konstruktion einer Ausbildungsduldung in der Praxis vielen Interpretationsmöglichkeiten Raum gibt und der Wille des Gesetzgebers, nämlich mehr Planungs- und Rechtssicherheit für die Auszubildenden und ihre Ausbildungsbetriebe bezüglich des Status ihres Auszubildenden zu schaffen, nicht erreicht wird. Vielmehr werden auch hier entgegenwirkend Ermessensspielräume eröffnet, um jeweilige Positionen durchzusetzen. Das geht diametral am Willen des Gesetzgebers vorbei. Die Verwaltungspraxis kommt einem Ermessensmissbrauch gleich“. Ob das Einwanderungsgesetz eine Verbesserung der Lebenssituation von geduldeten Geflüchteten durch die Möglichkeit eines „Spurwechsels“ mit sich bringen wird, kann erst zum Ende des Jahres beurteilt werden. Bis dahin wollen sich die Parteien auf ein Gesetz einigen. Entscheidend wird dabei auch die Frage sein, inwiefern sich Hardliner und ‚Integrationsverweigerer‘ aus den Innenministerien im Gesetzgebungsprozess durchsetzen können.

[1] Ein anderes Beispiel ist die Frage, wie weitreichend die Formulierung, dass „Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung bevorstehen“ zu deuten ist, siehe https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/doc/2018-08_ausbildungsduldung-2018_web.pdf

[2] Die Zitate sind Interviews entnommen, die im Rahmen des durch das BMBF geförderten Forschungsprojekts „Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland“ (www.welcome-democracy.de, Laufzeit: 10/2017-09/2020) geführt wurden. Sie wurden sprachlich leicht geglättet.

[4] In anderen Fragen ist die Hamburger Umsetzung der Ausbildungsduldung verhältnismäßig liberal, so kann etwa eine Ausbildungsduldung bis zum praktischen Vollzug der Abschiebung beantragt werden. „Aufenthaltsbeendende Maßnahmen“ (s. Fußnote 1) gelten erst dann als eingeleitet, wenn sie unmittelbar bevorstehen. Sie „sind nur dann anzunehmen, wenn die faktische Vollstreckung eingeleitet ist („Buchung des Fluges“). Auch in diesem Fall wird die Ausländerbehörde die Rückführung noch aussetzen, wenn die Betroffenen bis zur tatsächlichen Rückführung einen geschlossenen Ausbildungsvertrag vorlegen können“. Darüber hinaus akzeptiert die Ausländerbehörde über eine Ermessensduldung die Vorlaufzeit bis zum tatsächlichen Ausbildungsbeginn, sobald der Ausbildungsvertrag vorliegt und eingetragen ist, siehe https://ggua.de/fileadmin/downloads/Ausbildungsduldung/HAmburger_Erlass_vom_9._Maerz_2017-1.pdf.

[5] https://www.saechsischer-fluechtlingsrat.de/wp-content/uploads/2017/05/Positionspapier-Ausbildungsduldung-Stand-09_17.pdf

Eine gedruckte Version des Artikels erscheint in der Zeitschrift analyse & kritik

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Doreen Bormann / Nikolai Huke

Wir forschen im durch das BMBF geförderten Projekt "Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland" zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten.

Doreen Bormann / Nikolai Huke

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