Am Venusbassin

Folge der Sonne! Ein neuer Morgen erwacht im Tiergarten

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Aus dem Schlaf treibt der Lärm der Vögel die Gedanken an die Oberfläche des Bewusstseins. Unsicher streut das frühe Morgenlicht durch Blattwerk und Zweige. Helle Blüten öffnen sich gegen die ersten Sonnenstrahlen, die den Weg bis zum blankliegenden Wasserspiegel finden. Das Venusbassin im Berliner Tiergarten schläft noch.

Peggy verweilt gerne in den luziden Untiefen zwischen Traum und Erwachen, sucht auch jetzt in der Erinnerung nach den letzten Bildern vor dem Einschlafen. Wo ist der fröhliche Troubadour mit der Gitarre geblieben? Neben ihr atmet Marlene gleichmäßig im Schlaf, tief eingegraben in ein Nest von Pelzen, sonst scheint niemand mehr unter der Rosenpergola zu sein.... mit allmählich erwachender Aufmerksamkeit ordnet Peggy alle Lebenszeichen ihrer Umgebung... nein, die Glut des Nachtfeuers glimmt nicht mehr, aber der rauchige Brandgeruch liegt noch fein über dem tümpeligen Bouquet des flachen Bassins.

Nymphea alba, kommt Peggy beim Blick auf die dunkle Fläche in den Sinn, über der einige weiße Blütensterne schweben. Sie muss lächeln: Ein kleines Segel ragt dazwischen auf, eine Spielzeugyacht hat sich mitten auf der Wasserfläche einen Liegeplatz zwischen den Seerosen gesucht.

Ob er das Schiff geschickt hat uns abzuholen? denkt sie belustigt.... leider sind wir keine Kinder mehr.

Sie erinnert sich an Lyonel Feininger, der kleine Traumyachten für seine Söhne gebaut hat, und auch an das alte Wasserwerk in Quedlinburg, an das Büro des namenlosen Architekten: Stand doch das feingliedrige Modell eines Gaffelkutters vor einem Fenster mit Blick auf die Wilde Bode.

Über dem Venusbassin jagen frühe Schwalben nach Insekten, die Sonne ist gestiegen und lässt Blätter und Blüten der Seerosen leuchten. Das kleine Segel schaukelt ganz leise.

„Wo sind wir?“ gähnt Marlene, Peggy hat nicht gemerkt, dass die Freundin erwacht. „Guten Morgen, schöne Venus im Pelz,“ neckt sie gleich die Verschlafene, „dein Bad wartet schon!“ Wie schade, dass unser Minnesänger sie jetzt nicht sehen kann, denkt Peggy dabei etwas schadenfroh....

Marlene lässt sich nicht auf das Spiel ein: „Ist noch was zu trinken da? Er hat keine Flasche hier gelassen.... glaubst Du, er kommt wieder?“

Nein, darüber möchte Peggy nicht spekulieren. „Wir sind hier am Endpunkt der Deutschen Reiche, meine liebe Marlene, nicht am Nabel, sondern am Schlussstein sozusagen. Hinter den Bäumen dort drüben wirst Du zwei Panzer der siegreichen Roten Armeefinden, und zwei Kanonen, die in der Schlacht um Berlin eingesetzt waren, mit der die Alliierten den Zweiten Weltkrieg beenden konnten,“ ihr Arm weist auf die dichten Baumreihen im Norden, „die Sowjets bauen ein Ehrenmal am Kreuzungspunkt der beiden großen Achsen, die das Gerüst der neuen Nazi-Hauptstadt Germania in den wilhelminisch verseuchten Grund schreiben sollten.... von Nord nach Süd wollten die Nazis die Siegesallee des II. Reiches zur bombastischen Siegesallee des III. Reiches ausbauen, direkt bis zur gigantischen Kuppel der Halle des Volkes.... mit dem Bau des Ehrenmals soll an diesem Punkt der Welt der preußische Größenwahn für immer gestoppt werden!“

Manchmal ist Marlene über den Eifer der Freundin irritiert. Aber heute morgen ist sie noch zu müde um sich zu wundern. Das Wort Kuppel erinnert sie an die Freunde auf dem Schlossplatz..... es gibt kein ironisches Bauwerk, denkt sie, Bauen ist immer Ernst. Aber sie erinnert sich nicht mehr, wer es gesagt hat.

„Wie schön, dass es dieses verträumte Bassin noch hier gibt!“ erwidert Marlene und schiebt den Pelz endlich zur Seite, denkt dabei aber ganz kurz an die unzählbaren Toten und an die Ströme von Blut und Tränen, die der unergründliche märkische Sandboden zusammen mit allen Siegesalleen schlucken musste...

Zwei leere Weinflaschen hat der nächtliche Besucher hinterlassen, die Erinnerung an ein paar Lieder, Gitarrenklang, ein Lächeln als Schatten und die Neuigkeit, die er erzählt hat: Sie bauen eine Mauer um den Tiergarten.

Aber Marlene kann diese Geschichte nicht glauben, vielleicht wollte der Unbekannte sich nur wichtig machen..... schade eigentlich, denkt sie noch.

Irgendwo sind Schüsse zu hören, weit entfernt liegt die Stadt.



Hier endet der 184. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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Geschrieben von

archinaut

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