Das Fremde in uns

Asyl: Warum das Brandenburger Tor ein Tor zur Welt ist

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Während sich die Schönen, Reichen und Mächtigen schon lange ihre Logenplätze am Pariser Platz erobert haben, eskaliert in kalten Oktobernächten ein sprachloses Drama der Machtlosigkeit auf der dunklen, kalten Bühne in der Mitte der freien Platzfläche: Nach einem Marsch quer durch die herbstliche Republik der gut genährten Deutschen haben sich offensichtlich Menschen entschlossen, auf diesem Platz zu verhungern.

Die Regelwerke der Gastfreundschaft sind vielfältig und wahrscheinlich so alt wie die Menschwerdung, schließlich dienen diese Vereinbarungen dazu, mit Menschen aus anderen Kulturkreisen in Austausch zu treten, eine soziale Übung außerhalb der Freund-Feind-Klassifizierung. Und bis heute gilt: zeigt der Feind die weiße Flagge, legt er sein Leben in die Hand der Gegner.

Es gibt wenig Schutz davor, in der eigenen Heimat fremd zu werden: Der Berliner Ehrenbürger Max Liebermann fühlte wohl das Fremde bis tief in seine Eingeweide, als die Nationalsozialisten hier am Pariser Platz 1933 den Tag der nationalen Erhebung feierten, überliefert ist seine Reaktion auf die überwältigende Inszenierung: „Ick kann jar nich soville fressen, wie ick kotzen möchte.“

Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts notiert den Aufbruch in eine neue, globale Völkerwanderung, und die Teilung des europäischen Kontinents, die im November 1989 endgültig kollabierte, bleibt möglicherweise nur eine Ruhephase als Zäsur von wenigen Jahrzehnten in der noch unvollendeten Geschichte unseres Planeten, der durch Industrialisierung im Raubbau geplündert, durch klimatische Veränderungen verwüstet und durch apokalyptische Konfliktszenarien bedroht bleibt. Nirgends sicher, nie.

Aber zurück zum Brandenburger Tor. Eine alte Geschichte fällt mir dazu ein:

Hinrich wanderte nicht mehr. Sein Haus stand nur noch an einem Ort, vor einer ausgesprochen hässlichen Sehenswürdigkeit mit fünf muschelfarbenen Säulen.*

Am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg leuchten hell die weißen Zelte des refugee-camps, aber auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor wird kein Zelt geduldet, keine Decke, kein Regenschirm.

Wer kann wissen, ob weiße Flüchtlingszelte nicht das Haus des 21. Jahrhunderts werden? Wer sein Geburtsland verlässt, hat Gründe, persönliche Gründe, politische, religiöse oder wirtschaftliche Gründe, und alle, die auf dieser Reise sind, sollten sich auf die Regeln der Gastfreundschaft verlassen können.

Schließlich kann jede und jeder von uns eines noch unbekannten Tages gezwungen sein, eine neue Existenz in der Fremde aufzubauen, sich in einem anderen Gemeinwesen zu orientieren und seine Kräfte dort zu Markte zu tragen.

Beschämt und empört bin ich, wenn ich lese, wie hungrige, verzweifelte Menschen an den Grenzen Europas vor den Augen der Frontex-Söldner scheitern, während viele Städte und Dörfer Europas demographisch veröden....

2010 wurden nur 10.450 Menschen in Deutschland als Asylanten anerkannt. Das sind rund 55.000 zu wenig, um nur den jährlichen Bevölkerungsverlust auszugleichen. Wir sind weder Ausgenutzte noch Sehnsuchtsziel aller Flüchtlinge, schreibt Frank Patalong im Spiegel (August 2012).

Besorgt und beunruhigt bin ich durch die Meldungen von der Nuklearbrandstelle Fukushima: Wo dürfen die Schiffbrüchigen stranden, wenn das japanische Archipel unbewohnbar werden sollte? Allein in der Region um Tokio leben 35 Millionen Menschen...

Solidarität steht über Eigennutz, daher kann kein Zweifel bestehen an der Notwendigkeit, Migration und Asyl zu ermöglichen und zu legalisieren.

Wenn das Fremde in uns nicht mehr leben kann, so entfremden wir uns auch von der Welt. Wer kein Gastrecht gewährt, wird mit allen feind.

Was in Hinrichs Haus dann passierte, weiß keiner genau.

Die Ordnungshüter in graugrünen Jacken öffneten gewaltsam das Haus. Es gab da kein Gerippe oder Kleidungsstück. Es war nur ein heller Schatten da, der ganz schnell trocknete, weil an dem Tag die Sonne schien.*

Nachtrag zum *23. Eintrag vom 15.10.2009: Hinter uns liegen die Chronolysen (in vier Akten)... die Timeline im Blog archinaut: ist inzwischen justiert. Dieser Blog berichtet aus Deiner Welt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich werde Euch nicht schonen. Öffne Deine Augen.

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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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