Der blaue Angler

Vom Lieben: Peggy und Marlene verlassen die Vorstellung und suchen einen Ort, an dem sie sich ungestört austauschen können

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Das Maxim-Gorki-Theater liegt dicht am Ursprung der Berliner Linden, zwischen Zeughaus und Universität, einträchtig mit dem Palais am Festungsgraben in der zweiten Reihe hinter der Neuen Wache.

Verstohlen verlassen Marlene und Peggy das Theater durch den Bühnenausgang, eilen im Nachtschatten des dichtschirmenden Kastanienwäldchens vorbei an der Neuen Wache hinüber zum mildleuchtenden Straßenlicht, überqueren schräg alle sechs Fahrspuren Unter den Linden...... ihre Absätze klappern über Asphalt und frostklirrende Pflastersteine, nur zwei Taxis pflügen suchend durch die menschenleere Großstadtnacht.

„Heute ist die Premiere, wir dürfen die anderen nicht im Stich lassen! Wohin verführst Du mich?“ empört sich Peggy, aber es klingt nicht ganz echt. „Wir sind früh genug zurück!“ setzt Marlene zurück: „Sie brauchen uns nicht auf der Bühne.....sie bringen die Sterbeszenen.... der Vater geht heim, das muss man nur einmal erleben...“

Peggy widerspricht: „Nein, nein, die Szene mit der Mutter kommt bald...... die Uraufführung will gar nicht enden, sie hätten viel mehr Text raus schneiden sollen...“ und dabei fällt ihr ein, dass auch die Freundin den Vater früh verloren hat.

„Komm, komm, Du wirst es nicht bereuen!“ lockt Marlene: „Ich brauch ein paar frische Gesichter zur Abwechslung, seit Monaten sind wir in dieser schrecklichen Zeitschlaufe gefangen....“ und die beiden Damen biegen hinter der Staatsoper auf den Bebelplatz und tänzeln kichernd in die Tiefe zum anderen Ende des Platzraums, vorbei am blendenden Mal in der Mitte der weiten Platzfläche, linkerhand dunkelt sanft die Wölbung über St. Hedwig, daneben leuchtet still das Hotel de Rome

„Wir haben einen günstigen Zeitpunkt erwischt,“ flüstert Marlene, „die Gateguards vor dem Eingang tragen keine Maschinengewehre!“ Peggy wundert sich im Stillen über die Zuversicht der Freundin, Ob sie uns einlassen?

Über dem Eingang vier Fahnen kältestarr, Marlenes Schritt wird fester, schlägt wie im Takt ein Metronom, ihr Blick zielt auf die Tür, entschieden vorbei an den beiden Guards, sie zischelt etwas zwischen den Zähnen, etwas wie Hier riecht’s nach verbrannten Ratten..... und rauscht mit Peggy im Schlepptau schon durch die schwere Messingtür. Beste Hollywood-Schule, denkt Peggy, während die beiden Freundinnen kichernd den dicken Teppich auf der Treppe im Windfang überwinden, sich unter der Glasdecke im prachtvollen Vestibül nach rechts wenden, dann durch die Glastür in den lebhaften Lärm der Bar finden und schließlich den langen Tresen entern. Durch die Fenster hinter der Bar können sie das hell leuchtende Quadrat auf dem Platz erkennen, den sie gerade querten.

Drei junge Männer wirken hinter dem Tresen, zwei davon mit langen weißen Schürzen. „ You’ve got archinaut:s finest?“ fragt Peggy neugierig, der Waiter stutzt kurz, beugt sich vor und empfiehlt ihnen stattdessen einen midnight snowstorm.

Die Bebel-Bar im Hotel de Rome ist ein wichtiger Hafen für die US-Community der Stadt... die anwesenden Gäste nehmen nur beiläufig Notiz von den beiden Neuankömmlingen.

„Als El vorhin die Geschichte von diesem Graph Rapido erzählt hat, habe ich mich an jemanden erinnert....“

„Wir haben keine Erinnerungen, wir sind Göttinnen!“ lächelt Marlene.

„Warst Du jemals in Quedlinburg?“ fragt Peggy, „eine kleine, halb vergessene Stadt im Schatten der Harzer Berge, der Marktplatz ist nur halb so lang und halb so breit wie der Bebelplatz hier vor dem Hotel..... ein verwinkeltes, von tausend Erinnerungen durchwirktes Fachwerklabyrinth wie der wahnsinnige Traum des Dr. Caligari.“ „Ich erinnere mich nicht!“ Marlene zwinkert leicht mit der linken Augenbraue, es könnte aber auch ein Schattenspiel der Kerzen sein.

„Ich bin zuerst in Dessau gewesen um das Bauhaus von Gropius zu sehen, die Schule, die Meisterhäuser...... die historischen Gebäude sind an eine Stiftung übertragen worden um den alten Ruhm neu zu polieren....“ „Ach,“ seufzt Marlene, „der elegante Walter und seine sozialistischen Mystiker!“ „Kennst Du sie alle?“ fragt Peggy neugierig. „Nein, ich war nie in Dessau,“ wehrt Marlene ab, „aber die Schließung war ein deutliches Zeichen.... mit dem Bauhaus haben die Nazis das wichtigste Organ getroffen: Entartete Kunst – was für ein bösartiger Schwachsinn! Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum: der erste Erlass von diesem Nazi-Minister.....Frick hieß er wohl!“

„Weißt Du, dass viele Arbeiten von Feininger nach Quedlinburg verschlagen wurden, als Mies das Bauhaus schließen musste? Ein Student von Mies war befreundet mit der Familie Feininger..... er ging nach dem Untergang der Schule zurück in sein Elternhaus, in die verwinkelte alte Stadt der Erinnerungen und zeigte die Bilder in seiner Privatwohnung, bis die Sammlung eine eigene Galerie bekommen hat...“

In kleinen Gruppen plaudern die Gäste der Bar lebhaft, nebenan probiert jemand den Flügel. In der Bar ist es voll geworden. „Im Mai dreiunddreißig wurden da drüben die Bücher verbrannt.... wie Hexen auf dem Scheiterhaufen,“ murmelt Marlene, „wir schauen gerade auf die Stelle.... dort, wo die Platzmitte leuchtet!“ Feiner Dunst sammelt sich im Frostlicht über dem Platz und vertreibt das diffuse Leuchten in alle Richtungen.

Peggy erzählt jetzt aus Quedlinburg: Am Aufgang zum Schloss hatte sie die Lyonel-Feininger-Galerie gefunden: „Viele kleine Seestücke, zart.... wie gefrorenes Spinnweb, farbige Meere.... fein gehaucht als Anmutungen der Lichtbrechung.......ein eigentümlicher Kontrast zu den schmalen Gassen und engen Höfen der dichtgedrängten Stadtkulisse.... wie ein Zimmer mit Ausblick: Der rote Dampfer, Vogel-Wolke, Segelboote, Stiller Tag am Meer, Vor der Küste, Ebbe, Segelschiff mit blauem Angler, kennst Du das Bild? Ein kleines Ölbild, fast quadratisch, eine blaue Figur unter einem glühendroten Himmel, davor treibt eine schwarzer Dreimaster auf schwarzer Reede.... Das bringt die Pest.... so sprach ein anderer Besucher mich an, aber ich hasse es, wenn ein Mann mich in diesem Moment stört, in dem man ganz wehrlos ist, also habe ich ihn mit einem tödlichen Blick fixiert, und er hat sich sofort entschuldigt... als ich weiterging, blieb er vor dem Bild zurück, was mich etwas enttäuschte übrigens.... es gibt äußerst liebenswürdige Exponate in der Galerie, auch Spielzeughäuser und die kleinen Segelyachten, die Feininger für seine Söhne gebaut hat..... als ich schließlich gehen wollte, saß der Störenfried im Foyer....... dass er mich jetzt gar nicht mehr beachten wollte, fand ich wenig schmeichelhaft, außerdem wollte ich jemanden finden, der mir die Stadt zeigen konnte....... ich fragte ihn also, was er mit der Pest gemeint habe.“

„Er blieb einsilbig, freundlich zwar, aber reserviert...... es habe keine Bedeutung, meinte er, es sei ein Scherz gewesen, er wünsche mir noch einen unbeschwerten Tag in Quedlinburg..... Oh gosh, damit erwischte er mich natürlich! Wir wissen ja, dass Lyonel Feininger nicht gerne aus Deutschland fortgegangen ist, sage ich noch, er hatte fast vierzig Jahre mit den Deutschen gelebt, er hatte in Deutschland studiert, er arbeitete an öffentlichen Aufträgen, seine Werke hingen noch in privaten Sammlungen und staatlichen Museen, bis die Nazis die sogenannten Relikte der Systemzeit aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit entfernten...... den jungen Freund aus Quedlinburg nannte er Rochus, im Scherz vielleicht nach dem Schutzheiligen der Pestkranken....

Das Bild mit dem Blauen Angler erinnert mich an den Mönch am Meer von Caspar David Friedrich, versuche ich ihn aus der Reserve zu locken, Feininger ist auf der Suche nach der einfachsten Form!

In diesem kleinen Ölbild sehe ich alles, was er verloren hat, sagt er vorsichtig: Es ist entstanden im Jahr 1933..... als er das Meisterhaus in Dessau aufgeben musste...... als er in der Sommerfrische blieb, bis der Novemberfrost Schnee und Eis über die Dünen der Ostseeküste trieb..... als die Nationalgalerie schon den Nachweis der nichtjüdischen Abstammung verlangte...... als seine Frau Julia in Berlin bei Freunden ein Gästebett für den Winter suchte...... ein Bild nach einem alten Holzschnitt, den er selbst in den letzten Tagen des ersten Weltkriegs geschnitten hatte, ein unheimliches Totenschiff wie der Rattenkahn in der Eröffnungssequenz von Murnaus Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens....... er hat das Bild des Untergangs gemalt und doch nicht gesehen, was vor seinen Augen entsteht...

Glaub mir, Marlene, in dieser Sekunde wusste ich: Du bist der blaue Angler, und Ich will Dein rotes Schiff sein!“


Schrilles Gelächter dringt durch die Brandung der lärmenden Gäste, jeder Einzelne versucht sich durch die Erhöhung des Schalldrucks an der Oberfläche der Hörsamkeit zu halten. Texas und Ostküste kann Peggy unterscheiden, Leute aus dem Süden, aus Georgia oder Alabama, aus Chicago, auch den Wiener Akzent eines Immigranten meint sie zu erkennen. Die vertraute Sprache und die raumgreifenden Gesten der anderen Gäste überspülen ihren Erinnerungsstrom machtvoll mit Gegenwart ..... ich werde morgen weiter reden, und ich werde ihr alles erzählen, was ich über den blauen Angler weiß!

Vor dem Fenster segeln jetzt Schneeflocken aus dem Nachthimmel durch den kalten Nebel und wirbeln um den Lichtschein: Es könnte auch feine Asche sein, denkt Peggy. Wenn schon keine Schneeflocke der anderen gleichen soll, wie viele Myriaden verlorener Buchstaben müssen dann wohl im grauen Ascheplankton um die Welt tanzen...

Wie in weiter Ferne hört sie Marlene sagen: „Können Sie uns heute Abend den Spa Ihres Hauses zeigen, junger Mann....You know some like it hot!

„Marlene, wir müssen zurück auf die Bühne!“


Es wurde noch sehr lustig, aber ich war nicht dabei. Ich weiß nicht einmal, ob Marlene und Peggy in das Maxim-Gorki-Theater zurückgekehrt sind. Ihr wisst ja, ich bin hier nur der Navigator.

Vielleicht spielen die Archinauten mit der zweiten Besetzung weiter.



Hier endet der 131. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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archinaut

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