Der letzte Sommer über Hiddensee

Wahrheit: Wenn Jenseits erreichbar wird, an welchen Grenzen entzündet sich dann eine neue Sehnsucht? Ein Roman von Lutz Seiler erinnert an den Weg zur Freiheit: "Kruso"

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Ein blanker Junitag im Jahr 1989 in der Nähe des Leuchtturms Dueodde Fyr an der Südküste von Bornholm… zu dritt haben wir Fahrräder gemietet, um das Inselland zu sehen… unser Boot wartet heute im Hafen, hinter uns liegen Kiel und Møn, vor uns die pommerschen Küsten, wir haben Papiere für die Reise nach Polen bekommen, Häfen und Küsten der Deutschen Demokratischen Republik sind verboten für uns… hic sunt dracones.

Etwas verträumt, vielleicht müde gleiten unsere Augen über die blinkenden Wellen… „Hier auf Bornholm ein Ferienhaus… von Berlin aus die nächste richtige Insel,“ fantasiere ich halblaut und ernte Verwunderung: „Dazwischen liegt die DeDeEr… Du musst doch einen Riesen-Umweg fahren, um hierher zu kommen!“ Was ich geantwortet habe, weiß ich nicht mehr genau, aber meine sehr unbestimmt geäußerte Vermutung, dass der Weg zur dänischen Insel doch irgendwann, eines fernen Tages kurz genug sein könnte, löst gleich zweistimmiges Gelächter aus: Wir wohnen in West-Berlin, und das Land hinter der Mauer liegt für meine beiden Segelfreunde fern und dunkel wie die Rückseite des Mondes.

Aber ich habe mich damals wohl geirrt…

Die legendäre Insel Hiddensee erreichte ich erst einige Jahre später für einen grauen, nebligen Hafentag eines verregneten Segelsommers… und wieder sind es Fahrräder, die uns über Inselwege zwischen Neuendorf und Vitte tragen…. aber die Lieder sind verstummt, die vielbesungene Insel, das Capri von Pommern, bleibt für uns grau, schmal und stumm, leblos der Dornbuschwald.

Erst jetzt habe ich einen Weg gefunden, den Inselzauber zu erfahren, zu erlesen…. im Roman Kruso von Lutz Seiler, einem utopischen Retroskript vielleicht über Grenzsüchtige, über Exilanten und Fluchtmöglichkeiten aus der verflossenen Republik, über verbannte oder geflohene Poeten im Dienste einer verwunschenen Arche, die im märchenhaften Dornbuschwald ankert, nicht weit vom Leuchtturm.

Lutz Seiler schickt seinen Protagonisten Edgar Bendler, kurz Ed, in die unsicheren Anstrengungen, eine neue Heimat außer Landes zu finden, neue Freunde, einen Ort, der ihn aufnimmt, eine Existenz am Rand der erlaubten Welt, die Edgar schließlich verteidigen wird, als später schwere Kämpfe und neue(Reise-)freiheiten die Reihen der Mitstreiter lichten und der letzte Sommer des magischen Eilands in Agonie versinkt.

Seite um Seite, Kapitel um Kapitel wird eine geheimnisvolle Inselwelt tiefer beleuchtet, die ich nur zu gerne glauben mag, wäre sie auch vollständig erfunden… das Setting, das Personal, die Rituale und das Versprechen, „jeden Schiffbrüchigen des Landes (und des Lebens) in drei Nächten zu den Wurzeln der Freiheit zu führen,“ wie der Klappentext verrät.

Es gelingt dem Autor, dass mir die friedfertigen, bunten Aussteiger wieder vor Augen stehen, die kurz nach der Wende mit dem (gelegentlich selbstgewählten) Etikett Künstler mein Bild der DDR erweiterten, die phantasievolle Fluchten übten in die Nischen der freien Kreativität, bevor der nimmermüde Markt die Vielfalt der künstlerischen Produktion sortiert hatte… „Sie fertigten Schmuck, sie fädelten Vogelringe und bogen Dentaldraht, Ohrgehänge, zwanzig Mark das Paar. In Utopia würden drei Stunden gearbeitet am Vormittag, dann zwei Stunden Pause, für literarische Studien,“ so wird eine andere, berühmte Insel-Utopie zitiert.

Liebevoll und detailliert zeichnet Seiler das Betriebsferienheim Zum Klausner und seine Besatzung, von derTerrasse trifft der Blick der Tagestouristen nicht nur das Meer, sondern bei klarem Wetter auch ein Jenseits, ein Ausland hinter der Grenze, die Klippen einer dänischen Insel, und anschaulich beschreibt er das Ritual der Vergabe, geweihter Teilhabe für eine sehnsüchtige, bunte Schar, die bleibt, wenn die letzte Fähre geht, und ihre Feuer entzündet, obwohl nachts an den Stränden die Festnahme wegen Grenzverletzung droht.

„In diesem Land gibt es keine einzige reale Karte,“ lässt der Autor seinen Titelhelden Kruso ausrufen, „In diesem Land, mein Lieber, werden nicht nur Flüsse, Straßen und Berge verschoben, so lange, bis niemand mehr weiß, wo genau er eigentlich zu Hause ist, nein, auch die Küsten wandern, vor und zurück, sie wandern wie Wellen,“ als er seinem neuen Kollegen und Freund Ed in der verwitterten alten Strahlenstation die Karte der Wahrheit erklärt: „Es ist der Abstand, der niemals stimmt, die gefälschte Größe des Meeres, gefälschte Weite, falscher Horizont. Von Küste zu Küste ist es niemals so weit! Wenn sie stimmten, diese Karten, lieber Ed, hättest Du Møn in deinem Leben niemals gesehen aus deinem schönen Giebelzimmer, den stillen Fels aus Jenseitskreide, das unschuldsweiße Schimmern, wenn Du aufrecht sitzt in Deinem Bett am Morgen und dich fragst, was du hier sollst, was dir hier eigentlich geschieht, warum du gerade hier gelandet bist…“

Ed bewundert Kruso, sie werden Freunde und Blutsbrüder durch das Ritual, wie es zwischen Kindern geübt wird, und im Verlauf der vom Meeresraunen begleiteten Handlung erfahren die LeserInnen, welche Erfahrung die beiden ungleichen Männer teilen…. Der Roman endet in einem grandiosen Nekrolog, einem Requiem für alle, die ihre Namen am Inselstrand zurück ließen in der Hoffnung, andere Küsten zu erreichen, mit der gespenstischen Szene eines Totenarchivars in Kopenhagen, der Novalis zitiert und schließt endlich auf einem Russischen Friedhof in der Nähe von Potsdam.

Schon das Titelblatt des Buches hat mich angezogen, Ihr wisst es vielleicht, Leuchttürmen und Seekarten kann ich nicht widerstehen…. aber ich wollte das Werk nicht mehr zur Seite legen, bis ich die Dank­sagun­gen auf Seite 480 erreicht hatte.

Was hält noch unsre Rückkehr auf –
Die Liebsten ruhn schon lange
Ihr Grab schließt unsern Lebenslauf
Nun wird uns weh und bange.
Zu suchen haben wir nichts mehr –
Das Herz ist satt, die Welt ist leer.

(Novalis, Hymnen an die Nacht)

Ich gebe gerne zu, dass ich nach dem Lesen den Leuchtturm Dornbusch auf Google-Earth gesucht habe, dann (zu meiner Überraschung) den Klausner fand, unweit davon entfernt, Richtung Südwest, und durch eine technische Laune entsprach die rechte, östliche Hälfte des Satellitenbilds gut der gedämpften Stimmung meiner eigenen Hiddensee-Erinnerungen, während links der dunkelgrüne Dornbuschwald die Geheimnisse des Klausners hütet wie im Märchen von Dornröschen….

In die Vergangenheit können wir nicht reisen, und wenn wir uns fragen möchten, ob unsere Herzen die Sehnsucht an den Grenzen jemals wieder finden könnten, müssen wir uns eingestehen, dass wir die verwun­schene Pforte unwiderruflich passiert haben, sobald wir das begehrte Jenseits erreichen. Unser Verlangen können wir kein zweites Mal stillen.

Heute wohnt die Sehnsucht nach der Jenseitskreide, nach dem unschuldsweißen Schimmern wohl an den Rändern Nordafrikas, und in jeder Nacht findet sie neue Opfer, die sie auf die Reise nach Europa schickt.

Alle Zitate mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags

Lutz Seiler „Kruso“

Suhrkamp Verlag

Gepl. Erscheinung: 06.09.2014
Gebunden, 484 Seiten
ISBN: 978-3-518-42447-6


Ausgezeichnet mit dem Uwe-Johnson-Preis 2014


Lutz Seiler liest aus seinem Roman „Kruso“

zur Buchpräsentation am 28.08.2014
um 20:00 Uhr in der Akademie der Künste

Moderation: Helmut Böttiger
Begrüßung: Ingo Schulze

Pariser Platz 4
10117 Berlin

Eintritt: € 5,- / erm. € 3,-

Nachtrag zum 124. Eintrag vom 08.11.2010: : Hinter uns liegen die Chronolysen... die Timeline im Blog archinaut: ist inzwischen justiert. Dieser Blog berichtet aus Deiner Welt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich werde Euch nicht schonen. Öffne Deine Augen.

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Geschrieben von

archinaut

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