Ob Freiheit noch sexy schmeckt? „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“, so lautet die These zur Einladung zum Medienkongress der links-alternativen taz. die tageszeitung und des linken Wochenmagazins der Freitag am 08./09.April 2011. Ein schönes Paar?
Gegründet im Urknall der Westberliner Sponti-Szene, dem legendären Tunix-Kongress hat die taz in den vergangenen Jahrzehnten viele Häutungen überlebt.....„Wir lassen uns nicht mehr einmachen und kleinmachen und gleichmachen. Wir hauen alle ab - zum Strand von Tunix!“ war 1978 die erotisierende Losung, stehen die Revoluzzer von damals also endlich am Meer? Oder sind sie einen Schritt weiter? Alte Damen stellen gern ihren Liegestuhl auf das Deck eines Kreuzfahrtschiffes....
Die Virulenz des Revolutionsmythos ist zu hinterfragen, Vivisektion oder möglicherweise Obduktion an real existierenden Revolutionszuständen zu leisten..... gewiss hilft dabei „Der Traum vom Fliegen“, den das Spruchband über dem Eingang verspricht.
Ein flaches Wasserbassin spiegelt die fliegende Losung: Ort der Veranstaltung ist die Berliner Kongresshalle, bekanntes Fotomotiv der Westberliner Insel, das Geschenk der amerikanischen Freunde zur Bauausstellung 1956/57, kurvenreich und glamourös wie Rita Hayworth, die Fackel der Freiheit soll in der befreiten deutschen Hauptstadt leuchten (lange vor dem Bau der Mauer...), ein Forum der freien Rede alte Nazigeister vertreiben, idyllisch entlegen am Tiergartenrand zur Spree, heute umgeben also von frischgrünem Frühlingsflor und sonnenblinkenden Wasserflächen ..... nach kosmetischen und anderen Operationen firmiert der aktuelle Relaunch als Haus der Kulturen der Welt: Was für ein überaus generöses Setting!
Die Hausleitung begrüßt die Veranstalter, Gäste und Teilnehmer, das Grußwort schließt mit der Vermutung, die Revolution finde im Kopf statt. Ist die alte Dame etwa in die Jahre gekommen? Eine schwangere Auster will der Welt am Tag X eine Perle schenken ... sollte die Revolution am Ende eine Kopfgeburt sein?
Wir hören die Botschaft aus Kuba: Zunächst hat sie eine völlig horizontale Struktur. Sie hat keinen Anführer. Auch wenn viele inner- und außerhalb Kubas in mir das Gesicht der kubanischen Bloggerszene sehen, so sind wir doch einfach Menschen, die Gedanken, Argumente und Kriterien miteinander austauschen. Niemand ordnet sich irgendjemandem unter. Das war wahrscheinlich auch der Schlüssel dafür, dass es uns noch gibt, dass wir leben und uns weiterentwickeln. Regierungen wie das kubanische Regime, also vertikale Strukturen mit einer sehr klar definierten Führungspersönlichkeit, mit einer klar strukturierten Befehlskette von oben nach unten, solche totalitären Regimes sind sehr effektiv darin, Strukturen zu bekämpfen, die so ähnlich sind wie sie selbst. Deshalb fällt es ihnen so schwer, die Blogosphäre auszuschalten oder zu neutralisieren. Bloggen ist wie ein Virus: Einer steckt den anderen an, und die Bloggergrippe verbreitet sich immer weiter. Aber es gibt keinen Kopf, den man abtrennen könnte, keinen Chef, den man einsperren könnte, keinen Führer, den man zum Schweigen bringen könnte, damit alle schweigen, so artikuliert die kubanische Bloggerin Yoani Sánchez in ihrer Video-Botschaft: Das Visum zur Ausreise wurde verweigert, um so eindrucksvoller überstrahlen ihre Gesten auf der riesigen Leinwand das Podium des Abends und das Publikum der ersten Diskussion, alle Teilnehmer versammelt im Schoß der schwangeren Auster unter der Ankündigung: Hier spricht die Revolution.
Heteronormativität in den Medien, „Der Muslim“: Liebling der Medien?, Brauchen wir eine neue Ethik für das Netz?, Innovation: Vorbild Axel Springer?, Die neuen 68er, Zensur in Ungarn – Gefahr für Europa?: Diese und viele weitere Fragestellungen werden auf den Podien des nächsten Tages aufgeworfen und ventiliert, neben dem großen Auditorium parallel in drei Konferenzräume, einem kleineren Saal und auf der Bühne am Café Global, das Speedlab der taz bietet Crashkurse zu brandneuen und steinalten Medien an. Ein Drittel des Angebots reflektiert Aspekte des Internets und der digitalen Diversifizierung der aktuellen Medienlandschaft, handfeste Fakten verspricht dagegen das Panel Hau die RedakteurInnen! LeserInnen beschimpfen die RedakteurInnen von taz und der Freitag – und die schimpfen zurück.
Breit gelagert das Sockelgeschoss, der Raum fließt über mehrere Stufen, aus der Höhe fällt das kräftige Sonnenlicht in die Halle direkt unter der Schale des Auditoriums und begleitet FlaneurInnen und SympathisantInnen in alle Richtungen, die Konferenzräume liegen in der Peripherie des Sockels mit Ausblick in die erwartungsvollen Baumgruppen des frühlingshungrigen Tiergartens.....
Darüber lockt die riesige Terrasse nach draußen in die junge Sonne.... wenn auch die Liegestühle noch im Winterquartier verstaut sind, fühlt man sich wie auf dem Sonnendeck eines Musikdampfers. Einen kräftigen Steinwurf entfernt leuchtet hell ein Flügel des Bundeskanzleramts, ein offene Säulenhalle als Dach für einen luftigen Garten, am Flügel entlang schweift der Blick durch die Bäume zum Reichstagsgebäude, sogar der Fernsehturm am Alex ragt aufmunternd in die Blickachse...
Zwei stehen am Rand der riesigen, leeren Terrasse. Nach dem Abriss des Randbogens war die Kongresshalle einige Jahre gesperrt. Man hat viel Mühe verwendet, eine neue Nutzung zu installieren, man musste etwas Neues erfinden: das Haus der Kulturen der Welt..... sagt er.
Ich bin zum ersten Mal hier, sagt sie, was für ein großzügiges Haus, mittendrin in Berlin, aber versteckt wie eine geheimnisvolle Insel! Und die Blicke der Beiden wandern weit über die Stadt zum höchsten Turm, der spitz in den wolkenlos blauen Frühlingshimmel taucht....
Schade eigentlich, dass sie in Zukunft ihre Veranstaltungen in das Humboldtforum verlegen, wenn das Schloss fertig ist... das Haus und sein Programm wird kannibalisiert zur Reanimation des Berliner Stadtschlosses..... ob die Linksalternativen einen Revolutionskongress der Zukunft wohl hinter barocken Sandsteinkulissen diskutieren? Wer weiß, was dann aus der Kongresshalle wird....
Die alte Dame leuchtet..... Beaches of Tunix – still a promise!
Hier endet der 161. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:
Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.
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Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:
Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.
Kommentare 19
danke für diese schöne erinnerung! selten habe ich ich mich in einem haus so wohlgefühlt, und hätte nicht gewusst, warum. derumzug ins schloss muss verhindert werden. das wissen wir doch nun, dass man erfahrungen und orte nicht einfach so - ohne verluste - mixen kann. nicht mal staaten.
sie hat übrigens fotos von draußen und drinnen, ist aber zu doof, sie in kommentare einbetten zu können.
Guten Abend, liebe kay,
mit Deinem neuen Bildchen hätte ich Dich beinahe nicht wiedererkannt.... freue mich aber sehr, dass Du vorbeischaust (egal mit welchem Bild!).....
Was macht die Anziehungskraft der Kongresshalle aus?
Der ansteckende Optimismus?
Die Übersichtlichkeit?
Der unangestrengte Raumfluss?
Die Patina einer entspannten Moderne?
Am letzten Wochenende auf jeden Fall die
lebhaften, revolutionsbewegten Gäste...
Herzliche Grüße
in die Heldenstadt!
Eine weichgespülte, foto- und medienaffine Revolution, die sich obendrei als Kulisse für romantische Revoluzzer-Träume eignet.
Eigentlich absurd, aber wundern tuts mich nicht mehr.
Autos mit futuristischen Namen sind Symbole für grenzenlose Freiheit, es gibt auch die passende "Revolutions"-Mode käuflich zu erwerben und das Gedankengut der Andersdenkenden, Außenseiter und politischen Heißsporne gehört zum guten Ton im Ambiente des häuslichen Buchregals.
Die (fiktive?) Beschreibung des Kongresses und die malerische, fast schon esoterische Sichtweise der Kongresshalle lässt einen ratlos und etwas alt-dämlich zurück. Ich schaudere.
...eine weichgespülte, foto-und medienaffine Revolution, die sich obendrein... !
Liebe Lee Berthine,
wahrscheinlich sollte ich ein paar Fragezeichen aus dem Text nehmen......
ich weiß aber nicht welche ;-))
Vielleicht überraschen uns die Revolutionen ja wie andere Mirakel auch: es gibt kein Rezept, aber hinterher will jeder dabei gewesen sein!
lieber archie, dein besuch bei der alten dame (wer war die eigentlich: das alte gebäude oder die alte taz oder die alte revolution oder ... ?) hat einen interessanten widerhall in deinem text gefunden.
die architektur des baus und die der bloggosphäre durchkreuzen sich zu einem traumhaften phänomen.
die stimme der frau aus kuba erhält viel sprechraum. hatte sie etwas zu sagen, abgehört von dem, was man so schon x-mal gehört oder gelesen hat? sie hat noch nicht gemerkt, dass die bloggerei die globalisierte hyde park corner mit speakers' corner ist. sie suggeriert, dass es strukturen gibt ohne struktur. und wie sieht so ein gebäude aus - ohne gestalt?
aber im übrigen gern gelesen, lieber archie.
Lieber h. yuren,
nie wäre ich so respektlos, die alte TAZ,
die ewige Revolution oder die Kongresshalle
in aller Öffentlichkeit als alte Dame zu bezeichnen ;-)
Deswegen verzeihst Du mir bitte, dass ich Deine Frage nicht beantworte?
Die Stimme aus Kuba war sehr eindrucksvoll, unten am Pult stand jemand, der die Rede auf deutsch übersetzt vortrug, er war etwas schneller mit der Übersetzung, die er ja aufgrund der Video-Aufzeichnung nicht simultan leisten musste, sondern vorbereiten konnte, ein interessanter Effekt, weil er/sie viel Applaus bekam, das Gesicht auf der Leinwand aber munter weiter parlierte....
Wahrscheinlich muss jede Revolutionspoesie diverse Mantras beinhalten, um wirksam zu werden (so oft sind Rituale wichtig, um das reale Leben zu erkennen;-))
Danke für den interessanten Bericht.
"Eine schwangere Auster will der Welt am Tag X eine Perle schenken ... sollte die Revolution am Ende eine Kopfgeburt sein?"
Herrlich, aber nicht nur das.
Man merkt, dass Du einer bist, der in Räumen mehr denkt, als in Lehrsätzen. :-))
Liebe Magda,
mein "Bericht" ist natürlich stark verkürzt, weil ich etwas oft Unbeachtetes beschreiben wollte, die Raumqualität nämlich, die uns doch Maßstab, Grund und Bühne für jede physische und mentale Bewegung gibt...
Es gab aber wirklich viele anregende Diskussionen und Begegnungen, auf dem Podium, aber auch in und zwischen den Veranstaltungen, abends sogar Tanz (discotiert von der TAZ-Redaktion!)
Das nächste Mal greif ich Dich für einen Walzer
(wenn Du kommst;-))
Lieber archie,
auch gerne gelesen. Das scheint doch ziemlich interessant auf dem Medienkongreß zu sein. Das Haus der Kulturen der Welt kenne ich nur vom Umschlag eines Buches mit moderner Lyrik von einem australischen Aborigines , das ich mir vor Jahren mal gekauft habe und dem ich bei einer Lesung hier in Essen zugehört habe , aber dessen Name mir im Augenblick leider nicht einfällt.
Schön auch immer wieder Deine Architekturbeschreibungen.
Die Berliner Kongresshalle ist das nicht die Auster?
Wahrscheinlich bringe ich da wohl was durcheinander?
Die Auster ist doch viel zu klein für einen Kongreß, oder?
So ist das eben. In Berlin kenne ich mich eben nur mit Pandbären aus. Schnüff. ;)
Herzliche Grüße
por
Nein, lieber por,
da bringst Du nichts durcheinander:
Auf vielen Fotos sieht man nur das Auditorium,
den größten Saal, über den das charakteristische Dach gespannt ist, aber im Sockelplateau unter der Schale liegen noch zwei oberirdische Geschosse mit vielen weiteren Konferenz- und Ausstellungsräumen, Büros, ein Restaurant zur Spreeseite...... mit der veränderten Nutzung nach der Wiedereröffnung wurde auch der neue Name eingeführt : Haus der Kulturen der Welt:
www.hkw.de/de/hkw/gebauede/erinnern/galerie_1/start_3.php
Herzliche Pandagrüße
sendet Dir
archie
Schön, dass Sie da waren, übrigens. Auch bei "Hau die RedakteurInnen! LeserInnen beschimpfen die RedakteurInnen von taz und der Freitag – und die schimpfen zurück".
Beste Grüße, KR
Lieber Klaus Raab,
für dieses Panel hätte man vielleicht Fan-T-Shirts (mit Kennung der Vereinszugehörigkeit TAZ vs. Freitag) für die Aktiven rausgeben können, dann wären die Fronten klarer gewesen..... aber eine schöne Idee war diese Veranstaltung auf jeden Fall, das Format ist ausbaufähig!
Herzlichen Dank übrigens noch an Sie/Euch für die ganze Veranstaltung (das muss doch auch mal gesagt werden ;-))
Montagsgruß
an Freitag
sendet archie
@ archinaut et altera
Wie weit ist die Verschwisterung zwischen taz und FREITAG eigentlich schon gediehen?
Ich frage deswegen, weil ich mir eine Meinung bilden möchte, darüber, was den FREITAG noch von der taz ideologisch unterscheidet.
Das ist mir wichtig, weil ich mich mit dem Gedanken trage, die Print-Ausgabe des FREITAG zu abonnieren.
Sollte sich jedoch heraus stellen, dass der FREITAG auf dem Weg ist, die modifizierte Wochenausgabe der taz, also des Sprachrohrs der grün angestrichenen FDP (= "Sozialismus ist Sowjetunion plus Elektrifizierung") , zu werden, muss ich mir das wohl noch mal überlegen. Weil, "irgendwie links" ist mir zu dünn.
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Kein IKEA-Projekt nirgends
Tom
Hallo Tom,
eine Verschwisterung zwischen den beiden Redaktionen ist nicht zu erkennen oder zu vermuten, dazu ist die Geschichte, das jeweilige Profil und die gegenwärtige Leserschaft, d.h. auch die Erwartung der beiden Leserschaften zu unterschiedlich.
Ideologie?
Kann ich beim Freitag nicht finden,
eher die eine oder andere Nachdenklichkeit
(= antiideologisch)
Ich finde dünne Wochenzeitschriften übrigens sehr sympathisch, nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus praktischen Gründen ;-))
Schön, dass Du vorbeigeschaut hast!
archie
Hallo archinaut,
danke für die Info.
Nur das mit der Ideologie sehe ich etwas anders.
Sei's drum.
Dünn darfse schon sein, inhaltlich steh' ich aber halt auf dickes...
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Kein IKEA-Projekt nirgends
Tom
Hallo Tom,
das mit der Ideologie...?
Meinst Du damit den Freitag,
der sich als "irgendwie links" bezeichnet?
Geht das denn zusammen - Ironie und Ideologie?
Dicke Grüße
archie
Moin archie,
da erwischst Du mich gerade auf dem falschrichtigen Fuß.
Ich habe damit eigentlich das Gedankengebäude einer Weltanschauung gemeint; aber eben auch nur "irgendwie". Und dieses "irgendwie", auch des hiesigen Hausherren, ist mir eigentlich zu wenig (zu dünn schrieb ich).
Ich neige ja eigentlich "irgendwie" :-)) beim Denken zum Marxismus; weil mir der von der immanenten Logik her am sympatischsten ist, was gerade die Analyse von Zuständen anbelangt.
Aber beim Ideologie-Begriff gerade nicht. Für mich ist Ideologie eben nicht die Verschleierung von Machtverhältnissen, sondern gerade das Gegenteil: die Entkleidung, das Verdeutlichen von Macht- und sonstigen Verhältnissen.
Und, ja sicher! doch, funktioniert in diesem Sinne Ironie mit Ideologie hervorragend. Die ironische Schilderung von Verhältnissen/Gegebenheiten zwecks Entkleidung, also Verdeutlichung der Macht ist doch auch und gerade in der Literatur ein bewährtes Mittel. Swift fällt mir da gerade ein - Gulliver und so....
Dicke Grüße retour
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immer noch kein Projekt nirgends
Tom
Hi Tom,
bei dem Wort Ideologie denke ich immer an "Mono",
also an ein Weltbild, das nur eine Idee kennt bzw. mit einer Idee alles erklären/deuten will....
Lieber polyphon als Monolog
sympathisiert
archie